Anna stellte sich darauf ein, dass sie rennen musste... und kämpfen. Trotz des gezügelten und gezäumten Tieres hatte sie schlicht die Schnauze voll! Was nutze es ihr, wenn die Maskerade gewahrt lieb und sie danach endgültig tot war? Schön für alle anderen Vampire, aber nicht für sie. Blut pumpte weiter in ihren Adern, in ihrem Fleisch und tat das, was Menschen nicht möglich war. Wenn dieses kleine Miststück aufstand, würden die Angreifer sich wünschen eine andere Nacht gewählt zu haben. Ob sie sich nun sofort katzengleich bewegen konnte, sei mal dahin gestellt, aber sie nutzte alles, was sie mit ihrem Blut ohne größere Probleme anstellen konnte um genau das zu erreichen. So etwas half auch beim Schießen, genauer gesagt beim Zielen. Sie rechnete mit einem oder mehreren Treffern. Wenn er kam, dann durfte sie sich davon nicht aufhalten lassen. Sie kannte Schmerz. Sie kannte ihn nur zu gut. Schmerz war irrelevant.
Da! Es war weniger laut als zuvor! Es prasselten nicht mehr so viele Schüsse in den Raum. Von Kameniev war nichts zu sehen. Na. Vielleicht konnte sie den guten Mann noch raus locken.
Sie hievte sich auf die Beine. Der Schütze, der gerade noch Munition in seiner Waffe hatte, schwenkte natürlich fast sofort zu ihr herüber. Er produzierte ein beschissenes Loch in ihrer Bluse. Hatte der Riss vorhin noch nicht genügt? Wenigstens war ihre Kleidung heute wieder eher dunkel. Als Tremere hatte sie es nicht ganz so sehr mit hellen, freundlichen Farben, selbst wenn sie quasi privat unterwegs war. Die Kugel zwackte auf ihrem Fleisch, als sie einschlug. Das war aber auch alles, was sie vermochte. Gott, hoffentlich fiel die raus und sie musste sie nachher nicht aus der Wäsche klauben. Sie versuchte so viel von der Situation zu erkennen, wie ihr nur möglich war.
Streßsituationen brachten manchmal echt merkwürdige Gedankengänge zum Vorschein.
Anna sprintete zur Tür und kaum, dass sie Luft geholt hatte, rief sie etwas, was wie 'Zashchita!' klang. Die Italiener waren hoffentlich nicht so gut im russisch um zu verstehen, dass die kürzlich noch tot spielende nach Deckung rief. Mit etwas Glück reagierte Kameniev drauf. Schöneres Schußfeld konnte er sich kaum wünschen, während der Schütze auf sie und ihre Bewegung konzentriert war.
Im Lauf riss die Adeptin die Waffe an sich. Ein Magazin hatte sie im heran kommen nicht entdecken können. Sie jetzt über die Leiche hocken und dort suchen, während sie noch im Schußfeld war? Für etwas, was sie wahrscheinlich eh nicht richtig wechseln konnte? Nö! Sie lief weiter in diesen Miniflur und sammelte sich kurz bevor sie dann die Waffe im Anschlag zur Tür heraus trat.
Die Schüsse ratterten wie zuvor in das Café. Die zwei waren also mit dem Wechseln ihrer Magazine fertig. Der dritte hatte hoffentlich nicht mehr viele Schuß übrig. Was sie jetzt tat...
Nein, sich lächelte nicht kalt. Das mühsame Zeigen von Emotionen hatte sie abgelegt, als der Schußwechsel begann. Das fiese Lächeln von Max hätte zwar gepasst, trat ihr aber dennoch nicht auf die Lippen. Falls die Männer zur Tür sahen und die Frau, die sie dort wahrscheinlich schlicht kopflos fliehend erwarteten wie so manchen vor ihr, dann sahen sie sich etwas seltsamen gegenüber.
Anna ging noch einen Schritt auf sie zu. Sie wollte für die Leute drinnen von der Mauer verdeckt sein, weder direkt vor der Tür noch direkt vor den zerbrochenen Fenstern stehen. Wenn der Transporter der Angreifer oder ein anderes Fahrzeug ihr etwas Deckung vor neugierigen Blicken geben konnte, nutzte sie auch ihn. Besser, wenn der Fahrer sie nicht direkt sehen konnte. So stand sie hoffentlich wenigstens minimal abseits von den Lichtkegeln, wenn sie Glück hatte. Auf der Straße selbst waren wohl hoffentlich keine Unbeteiligten mehr. Die Frau wirkte vollkommen ruhig, wie sie in Richtung der Männer zielte. Ihr Gesicht zeigte absolut keine Emotion, keine Wut, keinen Haß, keine Angst. Alles, was die Männer sehen konnten, war kalte Berechnung. Und vielleicht ein wenig Tod.
Rasch entschied sie sich, für einen der beiden, die gerade nachgeladen hatten. Es war der, der sich sofort zu ihr drehte und der Frau den Garaus machen wollte, die so blöd war durch die Tür fliehen zu wollen. Die anderen kümmerten sich noch weiter um das Cafe.
Das Blut rief. Anna war hungrig. Die Männer konnten ganz sicher ein wenig Angst und Respekt gebrauchen. Der Mann wurde von einer plötzlichen Schwäche befallen. Sein Kreislauf spielte nicht mehr ganz so mit, wie er sollte, Adrenalin hin oder her. Was mit ihm geschah, kannte er nicht. Es tat möglicher Weise noch nicht mal weh. Sein Blutdruck dürfte trotz der Stress geladenen Situation einen deutlichen Absacker machen. Anderthalb Liter seines Blutes traten direkt aus seinem Körper aus und flogen auf die Tremere zu um sie zu nähren, sie zu stärken, sie zu stählen für diesen Kampf, den man ihr aufgezwungen hatte und den sie nicht kämpfen wollte. Aber reichte die geraubte Menge schon aus, um ihn ernsthaft zu schädigen? Wenn Anna nichts weiter täte, wäre das hier noch sicher nicht sein Ende. Abgesehen von dem extrem plötzlichen Schwund seines Blutes würde es ihn ein ein paar Stunden sicher nicht mehr interessieren – rein gesundheitlich gesprochen.
Ein kurzes ziehen des Abzuges sollte eine kurze Salve folgen lassen. Sie traf sogar irgend wie. Boah, war der Rückschlag ätzend. Sie war so einen Mist einfach nicht gewohnt, verdammt noch mal! Hatte wenigstens der eine für diesen Moment genug? Sie hatte sicher gleich noch mehr als genug mit den anderen zwei zu tun. Hoffentlich kam Kameniev in die Puschen, wenn sie hier schon Kugelfang spielte.