Unglückliches Unglück.(Gegenwartsgeschichte)

Lethrael

Schreiberling
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9. März 2004
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Guten Abend.
Nach längerer Abstinenz stelle ich euch hiermit eine etwas Längere Kurzgeschichte vor.
Bitte sagt mir eure Meinung.
Unglückliches Unglück.
Er starte aus dem Fenster, gespannt wie ein Flitzebogen, was wohl draußen zu sehen sein möge.
Er wollte sich gerade setzen, doch die scharfe Stimme seiner Mutter fuhr im dazwischen:
„Lukas-Kim du wirst dich doch wohl nicht an das Fenster setzen wollen? Deine Brüder werden dort sitzen.“
Lukas starrte zu Boden. „Entschuldige.“, murmelte er und ging gehorsam an das andere Ende der Bank, um sich zu setzen.
Seine Brüder drängelten sich an ihn vorbei, setzten sich, ohne von ihren Game-Boys auch nur aufzusehen, oder nur einen kurzen Seitenblick aus dem Fenster zu werfen.
Der Zug fuhr langsam an, der Bahnhof zog am Fenster vorbei und Lukas reckte neugierig den Hals, um wenigstens etwas zu sehen.
Seine Mutter saß auf der anderen Bank, Lukas gegenüber und lass eine Zeitschrift. Lukas machte Anstalten näher an seinen Bruder zu rücken, doch seine Mutter warf ihn ein böses Gesicht zu und so rutschte er wieder zurück. Er öffnete den Mund um: „Aber die gucken ja gar nicht raus.“, zu sagen. Doch seine Mutter ließ langsam die Zeitschrift sinken, setzte ihre „Sei Still“ Mine auf und so verstummte er, ohne etwas gesagt zu haben.
Er starrte lange zu Boden und dachte nach: „Was mach ich bloß falsch? Wieso mag Mama meine Brüder viel lieber als mich? Ich bin doch schon groß. Ich kann schon bis hundert zählen und sogar lesen, obwohl ich noch gar nicht in der Schule bin. Aber trotzdem mag mich Mama nicht. Ich weis nur nicht warum.“ Eine einzelne Träne stahl sich still und leise seine Wange hinab. Sie tropfte auf den Boden und bildete einen kleinen dunklen Fleck neben seinen Schuhen. Er versuchte weitere Tränen herunter zu schlucken, aber eine weitere lief durch die noch feuchte Führung der ersten und tropfte neben ihr auf die Schuhe.
Er stand auf, den Blick weiterhin auf den Boden gerichtet.
„Ich muss mal. Ich bin gleich wieder da.“, murmelte er. Er versuchte dies ganz ruhig zu sagen, aber es gelang ihm nicht. Seine Stimme zitterte leicht und das bemerkte seine Mutter, „Pass aber auf, dass du nicht reinfällst und hör auf zu heulen, das hilft dir jetzt auch nicht.“, murmelte sie völlig desinteressiert. Er öffnete die Abteiltür und versuchte seine aufwallende Traurigkeit zu verbergen, doch er konnte es nicht. Die Abteiltür glitt in die Wand hinein und er rannte los. Tränen flossen über sein Gesicht und er meinte im Abteil ein Gelächter zu hören. Er schlug die Hände vor seine Augen und rannte so in einen anderen Menschen hinein. Doch er blieb nicht stehen und rannte einfach weiter dorthin wo er sicher allein war, auf das Klo.
Endlich erreichte er es und setzte sich auf den Deckel. Er hatte de Tür verschlossen und begann jetzt seinen Tränen freien Lauf zu lassen. Er weinte und schluchzte in diesem kleinen Raum, bis er sich endlich beruhigte. Seine kleinen Finger zitterten noch etwas und er spürte wie stille Tränen über seine Wangen glitten. Er wischte sie sich mit einem Ärmel ab, doch weitere quollen aus seinen Augen. Er sah sich auf dem WC um und roch diesen typischen Bahnklogeruch aus stinkenden Mief und hörte das Tackern des Zuges.
Er sah aus dem Fenster, hinein in die Dunkelheit, manchmal sah er kurz blitzende Lichter draußen vorbeiziehen. Doch sonst war alles dunkel, tiefschwarze Finsternis war dort. Dennoch fand er es so schön, dass er eine Weile einfach sitzen blieb und sowohl Geruch, als auch das Tackern des Zuges völlig vergaß.
Schließlich jedoch grummelte sein Magen und er wand sich ab. Er wollte aufstehen, doch dann dachte er an seine Mutter und blieb noch eine Weile sitzen. Der Zug wurde langsamer und schließlich hielt er. Seltsam, da war doch gar kein Bahnhof.
Eine knackende Durchsage erklang: „Aufgrund eines Lockschadens müssen wir leider halten…“ Er war sich sicher danach müsste noch etwas kommen, aber nichts weiter kam, nur dumpfes Rauschen. Schließlich erlosch das Licht und tauchte das WC in absolute Dunkelheit. Er sprang auf und stieß sich dabei irgendwo den Kopf. Er tastete sich vor und fühlte die Klinke, als auch den Sperrbalken. Er drehte an ihm und mit einem widerhallenden Klicken sprang er auf offen. Er drückte die Klinke und öffnete die Tür. Er hätte ebenso gut in dem Klo bleiben können. Nichts konnte er erkennen und so tapste er langsam, mit der Hand hin und her tastend in die Vermeintliche Richtung, wo seine Mutter und seine Brüder waren.
Er fühlte in einer Richtung eine Wand und ging mit der Hand an dieser Wand in eine Richtung. Kein Geräusch war zu hören, nur sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Selbst jetzt konnte er nichts sehen und die Wand nahm und nahm kein Ende.
Er tastete sich weiter und stieß dabei an etwas Weichem. Eine große Hand tastete über seine Haare und über sein Gesicht. Er erschrak und mit einem leisen Schrei fuhr er zurück. „Hey, ganz ruhig. Is’n bisschen dunkel hier. Ich hab’ hier doch irgendwo nen Feuerzeug, warte.“, murmelte eine leise Stimme, sie klang ruhig und freundlich. Funken flogen durch die Dunkelheit und endlich glomm ein wenig Licht durch den Raum. Eine kleine Flamme funkelte mitten im Raum auf, sie fuhr hin und her und schließlich leuchtete sie in sein Gesicht. Schemenhaft sah er einen Mann vor sich stehen, nun ja eher einen jungen Mann und er schien eher zu knien, so dass ihre Gesichter auf der gleichen Höhe waren. Er war groß und doch lächelte er, so kam es Lukas wenigstens vor. Er schien in seine Tasche zu greifen und tatsächlich er zog ein kleines Päckchen hervor. „Hier, ich glaub’ du brauchst das. Hast’e Angst. Brauchst’e nicht. Ich werd’ schon nen Ausweg finden. Ich hoff’ du hilfst mir dabei. Na wer bist du.“, sprach der junge Mann in leicht nervöser Stimmlage. Er gab ihm ein Taschentuch und strich ihm sanft über den Kopf.
Lukas wusste nicht was er Sagen, geschweige denn, was er tun sollte. Da war ein wildfremder Mensch und doch war er sehr freundlich zu ihm.
Doch schließlich stammelte er doch los:„Ich bin Lukas. Ich glaube ich kann dir nicht helfen. Ich such nur meine Mama.“ Lukas schnäuzte sich kräftig in das Taschentuch. Er spürte wie Tränen silbern an seiner Wange hinab glitten.
Der junge Mann sah auf ihn hinab und ein zweifelnder Ausdruck nahm in seinem Gesicht Gestalt an. „Ich versteh’ dich. Komm mit mir und hab’ keine Angst.“, seine Stimme fühlte sich so sanft an, sanft wie eine schützende Decke und Lukas glaubte ihm.
Das Licht wandte sich von ihm ab und doch blieb ein Teil des Lichts immer in seiner Nähe, so schien es zumindest. „Komm, Kleiner kletter’ auf meinen Rücken, da musst’e keine Angst haben, da weist’e dass ich da bin.“, hörte er die freundliche Stimme wieder. Er tastete sich langsam vorwärts und ertastete ein warmes etwas vor sich, er spürte einen Hals vor sich und schlang beide Arme darum. „Hältst’ dich gut fest? Dann los.“ Er spürte wie er mit den Füßen den Kontakt zum Boden verlor und wie er hochgehoben wurde. Er klammerte sich instinktiv an den Hals. „Nicht so doll. Ich lass’ dich schon nicht fallen. Ruhig.“, erklärte die freundliche Stimme und hustete.
Lukas ließ vorsichtig etwas lockerer und legte seinen Kopf auf das weiche Hemd des jungen Mannes, Tränen tropften darauf und der Mann spürte wie Lukas anfing zu zittern.
„Hey, mach’ dir keinen Kopf, wir werden sie schon finden. Willst’e wissen wie ich heiße?“, fragt die Stimme und versuchte den Jungen auf seinen Schultern damit abzulenken.
Lukas sah auf, langsam gingen sie durch leere Abteile und durch dunkle Gänge. Fern, fern voraus hörte er leise gedämpfte Schreie und trappelnde Füße.
Seine Tränen trockneten sich fast wie von selbst. „Ja, bitte sag es mir.“, murmelte er, seine Stimme zitterte noch immer, aber nicht mehr so schlimm wie vorher.
„Ich bin Michael. Ich freue mich dich kennen zu lernen, wir finden hier schon raus.“ Still ging Michael den Gang weiter. Vor ihnen wurde das Geschrei wieder lauter und ein rötlicher Schein tanzte an seltsamen Wänden. Die Dunkelheit wich langsam einem Zwielicht aus rötlichem Licht und Schatten, die tanzten und flackerten.
„Schau mal, ich hatte Recht. Da is’ ne Tür. Warte.“, sprach Michael und deutete mit dem Feuerzeug auf sie. Er wechselte das Feuerzeug in die andre Hand und versuchte die Tür aufzustemmen. Doch sie rührte sich nicht.
Lukas spürte wie der junge Mann in die Knie ging und hörte seine Stimme.
„Geh runter, ich muss die Tür aufbrechen, da könntest du verletzt werden. Hier halt mal das Feuerzeug.“, erklärte Michael und Lukas kletterte vorsichtig auf den Boden. Michael drehte sich noch mal um und drückte ihm das noch brennende Feuerzeug in die Hand.
Danach wandte er sich der Tür zu und legte oben einen Schalter um. Er versuchte es noch einmal sie zu öffnen, doch sie blieb zu. Schließlich verlor er die Geduld und rammte sie auf. Er fiel aus der Tür und verlor für einen Moment Lukas aus seinem Blickfeld. So verlor auch Lukas ihn aus seinem Blickfeld und als ob dies nicht genug wäre erlosch das Feuerzeug und er stand in flackernden Dunkel und rotem Schein. Er verzweifelte als er es nicht mehr anbekam und er schüttelte es, doch er hörte nichts. Tränen befeuchteten seine Wangen und tropften auf das Feuerzeug und noch immer gab Michael keinen Laut von sich.
Dunkler Rauch füllte langsam seine Sicht und er musste husten, da hörte er es auch zu seinen Füßen husten und ein leises: „Verdammt.“, erklang. Er sah wie jemand vor der Tür aufstand, zumindest schien es so. „Alles okay, Kleiner? Was ist denn los?“, fragte die freundliche Stimme und musste wieder husten. Lukas setzte an: „Dein, snief, dein Feuerzeug ist ausgegangen und ich krieg es nicht mehr an.“ Er versuchte die Tränen aufzuhalten, doch der Rauch und sein Schuldgefühl machte dies sehr schwer. Er fühlte sich hoch und aus dem Wagon gehoben. Immer dichter wurde der Rauch und nirgendwo schien es einen Ausgang zu geben. „Ist schon gut, das brauchen wir jetzt nicht mehr. Vermutlich ist nur das Benzin leer. Halt dich fest wir werden einen Ausgang…“, Michael unterbrach sich und hustete, auch Lukas begann zu husten, stärker und immer stärker.
Michael setzte sich in Bewegung und ging schneller und schneller von dem Rauch weg.
„Hast’e noch die Taschentücher?“, fragte er und setzte Lukas ab. Der griff in die Tasche und zog das Packet Taschentücher hervor. Michael griff danach und packte seinige aus, danach tauchte er sie in eine Pfütze. Inzwischen war der Rauch wieder dichter geworden und er musste stärker husten. „Hier, nimm sie und halt’ sie dir vor den Mund. Nimm meine Hand und komm, da ist ein Ausgang.“, erklärte Michael heiser und hustend. Er reichte Lukas die Hand und ging so schnell es Lukas möglich war auf ein fernes grünes Licht zu.
Lukas spürte eine warme Flüssigkeit, die auf seine Hand tropfte, doch sehen konnte er sie nicht. Michael hustete immer stärker und immer dichter wurde der Rauch, langsamer und langsamer gingen beide auf das Licht zu, doch plötzlich stolperte Michael und schlug hin.
Lukas wurde mitgerissen und landete unsanft auf dem Boden, wieder füllten Tränen seine Augen und lange unterdrückte Schluchzer suchten sich Bahn.
„Hey, nu wein’ nicht ich muss mich nur ein bisschen ausruhen. Da drüben ist der Ausgang, geh und bring dich in Sicherheit. Ich komm nach.“, Michael hustete stark und zitterte.
„Nein, ich will dich nicht allein lassen.“, schrie Lukas und umarmte ihn weinend.
Es wurde dunkel um ihn herum und er fühlte nichts mehr.
„Hier sind zwei Überlebende. Hey, wacht auf. Kommt schon. Hundert Prozent Sauerstoff über Maske, sie atmen beide noch.“, dies hörte Lukas und schlug schwach die Augen auf.
Helles Licht flutete in seine Augen und blendete ihn. Er musste husten und spürte ein Gummiband um seinen Kopf. Er saß, oder hatte sich gerade aufgesetzt. Ein älterer Mann mit einer roten Jacke bekleidet sah auf ihn hinab. Er versuchte zu lächeln, doch dieses Lächeln war genauso falsch wie das seiner Mutter. So klammerte sich Lukas an Michael fest. Er wollte weinen, doch Michaels Hand fuhr ihm sanft über den Kopf. „Keine Angst, sie wollen uns retten, komm gehen wir…“, brachte Michael noch heraus und setzte sich dann wieder die Maske auf.
Der Mann lächelte noch immer, auch als die beiden längst fort waren, er lächelte nicht über die Rettung, sondern über das Feuer, dass so viele Menschen das Leben gekostet hatte.
Zwei von dreihundert hatten dieses Feuer überlebt.
Lukas erholte sich schnell und doch war es, als hätte er alles, was er besaß und alles was ihm nahe stand in diesem Zug verloren.
Doch er hatte auch etwas gewonnen, einen Freund und seine Familie.
Michael hatte nichts verloren, er war nur zufällig in diesem Zug, doch er verlor seine Apathie, er hatte kaum Freunde, sie mochten ihn nicht, schließlich war er nur ein Streber und ein Besserwisser, doch jetzt wusste er warum er soviel wissen musste, um zu wissen, was getan werden musste und er gewann dadurch einen Freund…

MdBg Leth
 
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