Das Battle [Graue Wirklichkeit 3]

Freako

Der Kriegerpoet
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Bobo erkannte ihr Ziel erst, als Yasmine sie bei der Hand ergriff und um eine Ecke schleifte. Bobo blieb zweifelnd stehen und sah empor. Sie standen vor einer großen Lagerhalle, deren Wände vornehmlich aus rostigem Wellblech bestanden. Das Eingangstor stand weit offen, und davor drängten sich die verschiedensten Menschen des unterschiedlichsten Aussehens und der verschiedensten Hautfarben. Alle hatten sie jedoch etwas gemeinsam: Sie waren ähnlich gekleidet wie Yasmine und ausnahmslos Jugendliche im Alter von sechzehn bis ungefähr zwanzig Jahren. Sie saßen auf dem Boden, auf Müllcontainern und Eisengittern oder standen in Gruppen beisammen, tranken Bier oder rauchten und unterhielten sich. Ein seltsamer Geruch hing in der Luft, wie Zigarettenrauch, nur intensiver... irgendwie aromatischer. Die weißen Rauchschwaden waren selbst hier draußen manchmal so dicht, dass Bobo ein Husten kaum unterdrücken konnte. Von irgendwo weiter hinten, in einem Bereich der Halle, den Bobo wegen der vielen Leute nicht einsehen konnte, drang Musik an ihre Ohren; intensive Bässe und mehr gesprochene als gesungene Stimmen. Der Takt dieser Musik schien auf den ersten Blick langweilig, doch berührte er irgendetwas in Bobo. Sie hatte diese Musik bei Yasmine das ein oder andere Mal schon gehört, doch in dieser Umgebung wirkte sie vollkommen anders.

Sie war vollkommen abwesend, so dass sie die Bewegung zu spät kommen sah. Etwas riesiges prallte gegen sie und riss sie von den Füßen; doch bevor sie zu Boden stürzen konnte ergriffen sie starke Arme und fingen sie auf. Sofort wurde sie wieder hochgezogen und stand benommen auf ihren Füßen. Vor ihr stand ein Junge, viel größer als sie, mit breiten Schultern und kräftigem Oberkörper. Er trug das selbe wie alle hier- viel zu große Hosen und ein viel zu weites T-shirt, doch noch dazu einige schwere Ketten und ein schwarzes Kopftuch, das ihm das Aussehen eines verwegenen Piraten verlieh. Seine stahlblauen Augen sahen Bobo mit einer Mischung aus Überheblichkeit und Amusement an.

"Wer bist du denn?" fragte er. Seine Stimme klang grobschlächtig und passte zu seiner Größe, nicht jedoch zu seinem guten Aussehen.

Bobo wollte gerade eine Antwort stottern, als Yasmine neben sie trat.

"Lass sie, Lucio. Pass lieber auf wo du hinläufst!"

Lucio grinste nur breit und die beiden starrten sich gespielt drohend an, dann beugte er sich herunter und die beiden gaben sich einen Begrüßungskuss auf beide Wangen.

"Was geht hier heute? Ich hab hier noch nie so viele Leute gesehen!" sagte Yasmine. Lucio zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Es soll ein Preisgeld für das heutige Battle geben. Da wollen sie wohl alle absahnen- aber Craig lässt auch nicht jeden als Teilnehmer zu. Ziemlich mies drauf in letzter Zeit. Hatte ein Verfahren am Hals wegen... naja du weißt schon."

Yasmine nickte. "Dann gehen wir mal weiter. Wir sehen uns!"

Lucio hielt sie am Arm zurück und sah sie an. "Geht heute Nacht vielleicht was?"

Yasmine streifte lächelnd seine Hand ab und sagte: "Vergiss es, Lucio. Du bist nicht mein Typ."

"Hätte ja sein können!" grinste er. "Und was ist mit deiner kleinen Freundin?"

"Mach dich nicht lächerlich." zwinkerte Yasmine ihm lachend zu und drehte sich herum, wobei sie die völlig perplexe Bobo einfach mit sich zog und in Richtung der Halle davonging.

"Yasmine..." sagte Bobo zögernd, während sie sich durch die vielen Menschen hindurchzwängten. "Ich weiß nicht, ob das hier eine gute Idee war. Was ist hier los? Was meinte er mit 'Battle'?"

"Nichts gefährliches" antwortete Yasmine knapp, während sie ihre Freundin weiter mit sich zog. "Hier treten einige Jungs gegeneinander an... du wirst es sehen! Und es wird dir bestimmt gefallen. So etwas bekommst du bei uns zu Hause nie im Leben zu sehen."

Nach langem weiteren Rempeln und schlängeln waren sie schließlich an einer großen, freien Fläche in der Mitte der Halle angekommen. Es war ein Kreis mit ungefähr zehn Metern Durchmesser, bis zu dessen Rand die Jungen und Mädchen dicht gedrängt standen. In der Mitte standen zwei Jungen, die in seltsamen Posen voreinander standen und im Takt der Musik, die aus einem tragbaren CD- Player am Rand der freien Fläche drang, auf und ab sprangen und in Richtung des jeweils anderen in die Luft schlugen und traten. Es sah nicht besonders elegant, dafür recht komisch aus, und bei einer besonders gelungenen Bewegung klatschte der eine oder andere Zuschauer oder rief etwas, das in dem allgemeinen Gemurmel und Gerede jedoch meistens unterging.

Sie standen eine Weile lang auf ihrem Platz und Bobo wollte gerade fragen, was das ganze sollte, als die Musik ausging und die beiden Jungen sich die Hände reichten, sich umarmten und mit der freien Hand gegenseitig auf den Rücken klopften. Dann verließen sie den Platz und tauchten im Publikum unter.

Einige Augenblicke später trat ein junger Mann auf die Fläche. Er sah gefährlich aus- er war weiß und seine Haare komplett abgeschoren. Er trug eine gewaltige Hose, doch sein schwarzes T-shirt saß hauteng, so dass sein muskulöser Oberkörper mehr als deutlich zum Vorschein kam. Um seinen Hals hingen einige dicke, silberne Ketten, und seine dunkelbraunen, fast schwarzen Augen blickten mit einer seltsamen Mischung aus Aggressivität und innerer Ruhe in die Runde. Sein Gesicht sah aus, als hätte er die eine oder andere Schlägerei hinter sich, die bereits länger zurück lag.

Als er die Fläche betrat wurde es fast schlagartig still im Raum. Erwartungsvoll blickten ihn alle an.

"Das ist Craig!" flüsterte Yasmine Bobo zu. "Ihm gehört diese Halle, und er veranstaltet die Battles. Er ist eigentlich ein netter Kerl- so lange er bekommt, was er will, heißt das. Komm ihm lieber nicht zu nahe."

Inzwischen war Craig in der Mitte des Kreises angekommen und sah sich noch einmal um, bevor er anfing zu sprechen.

"Hi, Leute! Wie ich sehe scheint ihr alle spitzgekriegt zu haben, dass das heutige Battle was besonderes ist! Heute gibt es keine Teams, keine Crews- jeder ist für sich alleine. Der Gewinner kriegt ne Prämie von 500 Dollar. Wenn mir das was ich sehe nicht gefällt dann geht ihr alle leer aus. Also strengt euch an, Mädels. Es läuft wie immer: einer gegen einen, jedes Mal eine Minute Zeit. Der Gewinner kommt weiter. Also los! Ich hab nicht ewig Zeit."

Jemand startete den CD- Spieler, und einige Zuschauer klatschten in Vorfreude auf das Bevorstehende.

Bobo war es nicht wohl. Zum einen kam ihr diese ganze Veranstaltung immer zwielichtiger vor, und zum anderen war ihr inzwischen beinahe übel von dem fremdartigen Qualm. Lange würde sie es hier nicht mehr aushalten; doch sie zwang sich zur Ruhe. Der Weg sollte sich zumindest gelohnt haben.

Zwei weitere Jungen betraten die Tanzfläche. Der eine war mindestens zwei Köpfe größer als der andere, doch der kleinere schien dafür fast so breit wie hoch zu sein. Er trug eine kurze Hose und ein weißes Kopftuch, während der andere eine grüne Mütze und eine Art Trainingsanzug anhatte. Sie sahen sich kurz abschätzend an, dann nickte der Große dem Kleinen zu. Scheinbar sollte dieser beginnen.

Er nahm die Herausfoderung an- und was Bobo dann sah, ließ sie schlagartig jeden Schwindel und jedes Übelkeitsgefühl vergessen.

Der Junge begann im Takt der Musik von einem Bein auf das andere zu springen und dabei seine Arme zu bewegen. Doch anstatt dabei lächerlich zu wirken tat er es auf eine Art, die vermittelte, dass hinter seinen Bewegungen große Kraft und Geschick steckten. Und diesen Eindruck bewies er im nächsetn Augenblick. Er sprang mit ausgestreckten Händen auf seinen Gegner zu und landete auf ihnen, keine drei Schritte von ihm entfernt. einen Augenblick blieb er so stehen und deutete mit einem ausgestreckten Bein auf ihn, dann begann er sich auf einmal wie wild auf seinen beiden Händen zu drehen, so schnell, dass seine Bewegungen kaum noch zu erkennen waren. Dann ließ er sich auf seinen Kopf herunterfallen und drehte sich darauf weiter. Das Publikum brach in begeisterte Jubelrufe aus, und auch Yasmine sprang vor Begeisterung in die Höhe und deutete aufgeregt auf die Bewegungen des Jungen. Bobo konnte nicht anders als einfach nur dazustehen und das Geschehen zu betrachten.

Der Kleine hatte inzwischen aufgehört sich auf dem Kopf zu drehen und vollführte eine komplizierte Bewegung in der er sich über den Ellbogen und dann die Schulter drehte und sich schließlich mit der freien Hand in einem kraftvollen Schwung nach oben drückte. So stand er einige Sekunden lang und zeigte herausfordernd mit dem Finger auf seinen Gegner, während das Publikum vor Begeisterung tobte. Dann endete ganz plötzlich die Musik und der Junge ging wieder auf seine Füße hinunter. Er winkte nach Beifall, und den bekam er auch. Dann schritt er zum entgegengesetzten Ende des Kreises und sah seinen Gegner auffordernd an. Dieser ließ sich nicht zweimal bitten. Die Musik begann wieder zu spielen, und das Schauspiel begann von vorne...

Bobo kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie hatte noch niemals einen Tanz- denn nichts anderes war das, was sie sah- gesehen, der so voller Kraft, voller Ausdruck und Geschwindigkeit war. Jede Bewegung schien, egal wie kompliziert, genau auf die Musik abgestimmt zu sein. Nach jedem Paar, das gegeneinander antrat, entschied der Jubel des Publikums den Sieger. Es kamen weitere, und nicht nur Jungen, sondern auch Mädchen nahmen teil, und was sie an Kraft nicht aufbringen konnten, das machten sie durch Geschwindigkeit und komplizierte Drehungen und Posen wieder wett. Es war ein unglaubliches Schauspiel, und einer der Tänzer war besser als der andere.

Sie wusste nicht, wie lange das ganze ging, doch irgendwann verließen die letzten Gegner die Tanzfläche und die Musik blieb aus. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Zuschauer sich beruhigt hatten. Auch Yasmine diskutierte angeregt mit einem Jungen über das Battle und die Favoriten und schien Bobo völlig vergessen zu haben.

Diese war immer noch völlig sprachlos. Ihre Lungen schienen sich inzwischen an den Qualm gewöhnt zu haben, denn sie konnte fast völlig frei atmen. Interessiert verfolgte sie das weitere Geschehen.

Schließlich trat Craig wieder auf die Tanzfläche. Er trug den gleichen düsteren Gesichtsausdruck wie vorhin, doch in seinen Augen war zu lesen, dass er zufrieden mit dem war, was er gesehen hatte.

"Also Leute," begann er ohne Umschweife, "Wir haben heute viele gute Battles gesehen. Hätte nicht gedacht, dass ich sowas zu sehen bekomme. Wir haben acht Leute, die weiterkommen. Das bedeutet vier Battles, vier kommen weiter, und so fort. Ihr kennt die Prozedur. Der letzte tritt gegen mich an, und für den unwahrscheinlichen Fall, dass er gewinnt, kriegt er das Geld. Alles klar? Dann..."

Er wurde unterbrochen. Ein erstauntes Gemurmel ging durch die Menge. Ein weiterer Junge war auf der Tanzfläche erschienen, und aus irgendeinem Grund stach er Bobo sofort ins Auge. Er fiel von seiner Kleidung her eigentlich nicht auf, doch er war erstaunlich gutaussehend; nicht auf jene Provokante, herausfordernde Art gutaussehend wie die meisten Kerle hier... er sah fast unschuldig aus, irgendwie schüchtern, und doch war ein bestimmter, entschlossener Ausdruck in seinen Augen. Seine Augen... sie waren von einem wunderschönen grün, von einer eleganten Form und blickten in diesem Augenblick suchend unter den blonden Augenbrauen hervor.

Bobo fiel es erst auf, nachdem sie den Neuankömmling einige Sekunden angestarrt hatte- er hatte ihre Augen. Doch er sah sie nicht, sondern ging schließlich entschlossen auf Craig zu, der ihm sichtlich ungehalten entgegenstarrte.

"Was willst du? Ich kenn dich nicht."

"Ich hab gehört es gibt ein Battle. Ich nehme teil." entgegnete der Neue herausfordernd. Einen Augenblick lang sah es fast so aus, als würde Craig sich auf ihn stürzen wollen, doch dann entspannte er sich und lächelte spöttisch.

"Was solls" sagte er. "Dann trittst du gegen mich an. Ich wärme mich dann einfach ein bisschen auf. Fang an, du Spinner."

Der neue nickte nur und schlenderte fast gemächlich in die Mitte des Kreises. Craig ließ sich am Rand in die Hocke sinken und starrte seinen neuen Gegner an.

Bobo stubste Yasmine leicht mit dem Ellbogen an.

"Kennst du ihn?"

Doch ihre Freundin zuckte nur mit den Schultern. "Hab ihn noch nie gesehen. aber er traut sich was! Normalerweise hätte Craig ihn ordentlich verprügelt. Mal sehen, was draus wird."

Die Musik begann zu spielen, und der Junge mit den grünen Augen begann zu tanzen.
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Re: Das Battle [Graue Wirklichkeit]

Liest sich gut, aber könnte eher was für Szenekenner sein... :)
 
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