AW: [01.05.2008] Besuch aus der Fremde
Henry hätte fast sein Leben verloren und somit auch Evelina. Es konnte so plötzlich alles zu Ende sein. Nicht zu altern täuschte einen oft darüber hinweg wie vergänglich ihr Leben dennoch sein konnte.
Wieviel anders wäre doch sein Leben verlaufen, wenn er damals im Spätherbst 1932 nicht seinen Sohn in Oxford besucht hätte. Dann hätte er nicht genau dann Evelina kennengelernt und sie hätte sich vielleicht in einen anderen verliebt. Doch sie hatte ihn gewollt, so sehr, dass sie nicht lockergelassen hatte bis sie ihn bekommen hatte.
Ob er es jemals bereut hatte? Es war nicht leicht für ihn gewesen seinen Sohn nicht mehr sehen zu dürfen nachdem dieser 30 Jahre alt war, und auch nicht seine Enkelkinder. Zweimal hatte Henry dennoch heimlich nach Robert geschaut, aber nur aus der Ferne. Einmal als Robert Ende 40 gewesen war und zum letzten Mal als er 80 gewesen war. Es war so seltsam gewesen seinen eigenen Sohn als alten Greis zu sehen und selbst nur halb so alt auszusehen. Robert war immerhin 85 Jahre alt geworden, war nun seit 9 Jahren tot.
Die Nachricht seines Todes hatte Henry sehr getroffen.
Immerhin lebten seine Enkel noch, aber Henry durfte niemals Kontakt mit ihnen aufnehmen, da sie sich möglicherweise noch an ihn erinnerten, zumindest von alten Fotos her. Das Leben als Ghul hatte eben auch seine Schattenseiten. Als normaler Mensch hätte er weiterhin am Leben seines Sohnes und seiner Enkel teilhaben können, aber andererseits wäre er dann jetzt schon längst tot.
Und Evelina, sie war eine wunderbare Frau, und sie war Ferdinands Tochter. Sie und ihr Vater brauchten Henry. Sie waren glücklich zu dritt…wenn da nur nicht dieser Spanier wäre. Evelina dachte doch wohl nicht immer noch an ihn? Wollte sie ihn immer noch?
„Du wirst mich doch niemals verlassen?“ fragte er.
„Aber nein, Henry, warum sollte ich?“
Durch die körperliche Schwäche fühlte sich Henry irgendwie auch seelisch verletzlicher als sonst.
Evelina würde doch nicht mit dem Spanier durchbrennen? Aber nein, sie würde doch nicht ihren Vater verlassen, beruhigte er sich. Und dennoch, ein Unbehagen blieb. Wenn die Bindung an den Vater nicht wäre, würde sie Henry dann verlassen? Diese Frage nagte schmerzhaft an ihm.
„Du lässt mich aber nicht wieder allein heute, so wie gestern?
Ich hatte mich so schrecklich um dich gesorgt…und dich vermisst.“
Evelina strich Henry übers Haar.
„Natürlich bleibe ich heute bei dir Henry. Außer Onkel Nathan hätte mich gebraucht, aber das ist offenbar nicht der Fall. Da fällt mir ein – ich hatte Herrn Reser versprochen ihm Bescheid zu sagen wenn Vater wieder wach ist. Einen Moment, ich schicke ihm eben eine SMS.“
Evelina stand auf und schrieb an den Brujah:
„Vater ist wieder wach, er kommt noch zu der Feier, dort können Sie ihn sprechen bzw. einen Termin ausmachen. MfG, Evelina v. Rothschild“
Ob es Evelina zu langweilig geworden war mit ihm, fragte sich Henry. Irgendetwas musste ihr doch fehlen, wenn sie so auf diesen Spanier abfuhr.
Dass Henry nie um Evelina geworben hatte, war es das? Er nahm sich vor dies nun nachzuholen. Er wollte den Nebenbuhler ausstechen.
Er wollte nicht, dass Evelina Miguel am Ende mehr liebte als ihren eigenen Mann.
Trug sie noch immer den Mondstein, den dieser schmierige Charmeur ihr geschenkt hatte? Tatsächlich. Wie konnte sie Henry das antun?
Ein Mondstein! Mit so einen billigen Halbedelstein kam der Typ bei ihr an, mehr war ihm diese Klassefrau also nicht wert?
Einer Frau wie Evelina kaufte man ein Collier mit Diamanten, Smaragden oder Rubinen, und nicht so einen 08/15 Anhänger aus einem drittklassigen Schmuckgeschäft.
Dieser Stümper, obwohl ursprünglich aus dem Clan der Künstler, hatte weder Stil noch Geschmack.
Henry würde ihr bald schönere Blumen besorgen und ein viel edleres Schmuckstück.
Eigentlich wünschte er es nicht einmal diesem Kerl bis in alle Ewigkeit auf dem Grund eines Flusses zu schmoren, aber wenn er nur weg von seiner Evelina blieb, das würde Henry ja schon reichen.
Allzu traurig hatte Evelina gestern gewirkt. Er hatte es schließlich doch noch aus ihr herausgekitzelt wo sie gewesen war - im Café, um sich die Bestrafung anzuschauen. Vermisste sie den Typen jetzt? Was fand sie bloß an ihm?
Vielleicht erhoffte sich von einem mutmaßlich feurigen Spanier sexuell etwas Besonderes? War es Evelina im Bett zu langweilig mit Henry? War er da vielleicht immer zu lieb gewesen, und sie wünschte sich aber jemanden, der „männlicher“ war? Ein spanischer Gockel, der die Frauen reihenweise flachlegte, so einer gefiel ihr?? Henry konnte es immer noch nicht fassen. So ein Macho, der doch Frauen nur benutzte.
Warum fuhren nur so viele Frauen auf solche verantwortungslosen Hallodris ab?
Weil die einfach soviel aufregender waren als der treue Schluffen zu Hause? Der immer lieb und nett war, aber offenbar nicht "männlich" genug.
Vielleicht war Henry immer zu sehr der Rücksichtsvolle gewesen im Bett, vielleicht wollte Evelina härter rangenommen bzw. stärker dominiert werden? War er stets zu vorsichtig gewesen?
Vielleicht fand sie also er sei zu lasch, und der Spanier hatte also mehr Feuer, oder zumindest hoffte sie das.
Sie wollte im Bett einen „männlicheren“ Mann? Ja, war es das? Nun, das würde er bald wissen…
„Zieh dich aus“, sagte Henry da unvermittelt zu Evelina und sah sie begehrlich an.
Oh ja, er begehrte sie auch nach all den Jahrzehnten noch, aber besonders deutlich hatte er ihr das eigentlich nie gezeigt, sondern nur auf sehr verhaltene Art. Vielleicht, weil er das Gefühl hatte dass es sonst zu ungehörig war? Weil er fürchtete, dass sie das widerlich finden könnte, wenn er sie zu heftig begehrte?
Evelina sah erstaunt zu Henry als sie seine Worte hörte, und umso überraschter war sie als sie sah wie er sie anschaute. Schon allein durch diesen Blick fühlte sie sich ausgezogen. Das war gar nicht der Henry, den sie kannte. Was käme als nächstes? Bei Henry war doch eigentlich alles so berechenbar, doch jetzt…
Sie tat wie geheißen und zog sich langsam aus. Sie spürte Henrys Blick auf sich ruhen und wurde auch erregt. Henry zog sich den Schlafanzug aus.
Evelina äußerte besorgt: „Aber bist du denn nicht noch zu schwach, um…“
„Aber nein“, erwiderte Henry und zog Evelina energisch an sich.
„Henry…“ seufzte Evelina verzückt.
Sie war äußerst erstaunt und entzückt, dass Henry so leidenschaftlich sein konnte und gab sich ihm lustvoll hin.
Zwischendurch hielt Henry inne, doch wieder besorgt.
„Wenn es dir zu heftig ist, bitte sag mir bescheid…ich will dir doch nicht wehtun.“
„Mach weiter, Henry, das ist gut so…“
Schon lange hatte sie den Sex mit ihn nicht mehr so sehr genossen.
Indem Henry sich anders verhielt, leidenschaftlicher, verhielt sich nun auch Evelina anders…
„Ich hätte gar nicht gedacht, dass soviel Leidenschaft in dir steckt“, sagte Evelina, als sie sich schließlich erschöpft in den Armen lagen.
„Das gleiche könnte ich über dich sagen. Ich habe dich im Bett wohl immer zu sehr behandelt wie ein rohes Ei? Aber du wirktest so zerbrechlich…“
„Bin ich aber nicht…!“
Was hatte nur bei Henry diesen Wandel verursacht, fragte sich Evelina.
Da sah sie, dass der Mondstein am Boden lag. Die Kette war zerrissen. Das war wohl im Eifer des Gefechts passiert. Oder vielleicht war es gar kein Zufall gewesen? Vielleicht verabscheute Henry es, dass sie diese Kette trug, die ja Miguel ihr geschenkt hatte?
Hatte er Angst Evelina an Miguel zu verlieren?
Vielleicht daher seine Frage nach dem Verlassenwerden.
Da bekam sie ein sehr schlechtes Gewissen. Sie hatte Henry sicher sehr weh getan, und er hatte es in sich hinein geschwiegen.
Vor Henrys Augen hatte Miguel ihr Blumen und das Schmuckstück überbracht.
Wie hatte sie ihrem Mann das nur antun können…
Sie hatte nur an sich und Miguel gedacht und Henry ganz vergessen.
Wenn sie Henry einfach gesagt hätte was ihr fehlte, dann hätte sie schon viel früher mit ihm mehr Erfüllung im Bett finden können. Aber das Dumme war nur, es war ihr selbst nicht einmal bewusst gewesen was ihr gefehlt hatte bevor ihr Miguel begegnet war.
Henry durfte niemals erfahren, dass sie Sex mit Miguel gehabt hatte, es würde ihn sicher sehr verletzen.
Es war besser, wenn sie Miguel nie wiedersah. Vielleicht kam er ja ohnehin niemals zurück, und dieser Gedanke schmerzte.
Und sie hatte auch Miguel gegenüber ein schlechtes Gewissen. Sie vergnügte sich während er litt. Der Gedanke an sie war vielleicht das einzige was ihn jetzt noch aufrecht erhielt und ein wenig Hoffnung gab. Und käme er zurück musste sie ihm diese Hoffnung zerstören. Sie hätte ihm niemals Hoffnungen machen und sich ihm nicht hingeben dürfen. Doch zu spät, es war bereits geschehen.
Sie versuchte den Gedanken an Miguel wegzudrängen. Henry durfte nicht merken, dass sie an jemand anders dachte. Das durfte sie ihm nicht antun.
„Ich liebe dich, Henry“, sagte sie und sah ihn zärtlich an.
„Ich dich auch, Evelina…ich kann dir gar nicht sagen wie sehr…und um ein Haar hätten wir uns nie wiedergesehen.“
Er zog Evelina näher zu sich heran.