AW: Würfelmechanik
Ich würde das ja ein wenig abwandeln wollen:
Silvermane schrieb:
Ein durchschnittlich gut ausgebildeter Charakter sollte eine durchschnittlich schwierige Routineaufgabe IMMER PROBLEMLOS bewältigen können.
Im Ernst: ich gehe nicht zum Friseur, wenn eine 5% Chance besteht, daß er mir ein Auge aussticht oder mir die Halsschlagader beim Haarschnitt öffnet.
Diese in der Regel unabhängig von jeglichem Handlungskontext anstehenden "kritischen Fehler"-Wahrscheinlichkeiten finde ich schwachsinnig.
Ich kann verstehen, daß ein Friseur, der gerade emotional mitgenommen ist, weil er einem Interviewer berichtet, wie er als Friseur in einem KZ seiner eigenen Frau die Haare vor dem Vergasen schneiden mußte (siehe die sehr berührende TV-Dokumentar-Serie "Shoah"), daß in solch einem Moment als Ausnahme(!) einmal bei einer Routine(!)-Handlung ein Mensch nicht mehr in der Lage ist sicher zu arbeiten. (Das ist natürlich ein extremes Beispiel, aber das ging mir beim Thema Haareschneiden gerade im Kopf herum.)
Aber mir scheinen recht viele Regelsysteme davon auszugehen, daß prinzipiell JEDE Handlung unter enormem Streß und unter höchstem Risiko für Leib und Leben ausgeführt werden MUSS.
Unknown Armies geht da u.a. einen anderen Weg: hier wird NUR in Streßsituationen überhaupt gewürfelt!
Das ist eigentlich der Widersinn an kritischen Fehlern. Man würfelt für jeden Scheiß und erhält dann solche Tiefpunkterlebnisse, bei denen man beim Hosenanziehen den Gürtel so eng schnallt, daß man an Nierenfunktionsstörung verstirbt.
Wenn man in einem Regelwerk nicht von einer GRUNDKOMPETENZ der Charaktere ihren NORMALEN ALLTAG zu bewältigen ausgehen kann, dann taugt das Regelwerk in meinen Augen leider nichts.
Ich will nicht "Cereals: The Breakfasting" spielen müssen.
Kritische Erfolge und kritische Fehler sollten das Spielerlebnis interessanter machen, nicht unsinniger. Ebenso sollten Unsicherheiten/Konflikte im Spielgeschehen immer erst dann per Schicksal entschieden werden, wenn es wichtig für das Geschehen ist.
Ob mein SC beim Flanieren entlang der Hauptstraße jetzt von einem vorbeifahrenden Wagen mit Schlamm bespritzt wird, ist in einem Western-Setting, wo alles dreckig und schmuddelig ist und jeder versifft herumläuft, kein Problem. Wenn ich jedoch einen geschniegelten Stutzer aus dem Osten spielen will, der nie auch nur das kleinste Stäubchen an seinen teuren Klamotten toleriert, dann ist es für diesen Charakter wichtig genug, daß er mal versuchen könnte auszuweichen - und auch nur dann, wenn es für die Geschichte insgesamt wichtig ist! Denn, wenn ein Charakter drei Wochen im verregneten Denver verbringt, dann WIRD er garantiert seine Sachen verdreckt bekommen haben, aber er wird sie ebenso garantiert auch in der Zwischenzeit in die Reinigung gegeben haben. Das alles verschwindet einfach - weil unwichtig - in einer "Cut Scene", die drei Wochen später wieder einsetzt, als ein Zug mit seiner Verlobten am Bahnhof in Denver eintrifft. Hier ist es vielleicht wieder wichtig, ob er einen properen Eindruck macht, oder nicht.
Die mir viel zu weit verbreitete Erbsenzählerei, die die SCs künstlich inkomptenter als sie es dem Regelwerk nach sein müßten, erscheinen läßt, mag ich einfach nicht. Wer einen Charakter in einem Setting spielt, der sollte das Grundwissen und die Grundkompetenz eines Bewohners der betreffenden Spielwelt von dem Stand, der Bildung und dem Alter haben, das der Charakter darstellt.
Natürlich weiß in Falkenstein ein Adeliger Charakter, wie eine Fuchsjagd abläuft, und warum er für manche Dinge, die es zu besprechen gilt, sich ins Raucherzimmer oder die Bibliothek zurückzuziehen hat. Wenn er anfängt sich im Salon ungebührlich zu benehmen, dann weise ich als Spielleiter den Spieler daraufhin (falls sich der Spieler der gesellschaftlichen Regeln des Settings nicht bewußt sein sollte), daß er gerade einen enormen Fehltritt zu begehen im Begriff ist. So kann sich der Charakter bewußt entscheiden, etwas anderes zu tun oder eben trotz aller Konventionen doch seinen Weg zu gehen. - Dabei ist kein Wurf auf Benehmen, Etikette, etc. notwendig.
Ich finde bei Castle Falkenstein z.B. sehr erfrischend, daß der Charakter einfach "ist". Man spielt einen SC von Format. Eine echte Persönlichkeit, die sich über Selbstverständlichkeiten des Alltags keine Gedanken zu machen braucht. Nicht: "Würfel mal auf Kultur: Gehobene Gesellschaft, ob Du weißt, ob und wieviel Trinkgeld Du dem Ober geben solltest. - Oh, Mist! Ein Patzer! - Hähähä, Du gibst dem Ober Deinen gesamten Geldbeutelinhalt und noch Deine goldene Familienerbstück-Taschenuhr. Der Ober schaut Dich belustigt an und steckt die Wertsachen ein und geht in die Küche." Sondern: "Ich gebe dem Ober, der uns so freundlich bei der Weinauswahl beraten hat, ein gutes Trinkgeld. Nicht zu hoch, denn nur die niederen Stände haben es nötig mit ihrem Geld zu protzen." - Im zweiten Beispiel kommt die genaue Höhe des Trinkgeldes, wie auch im ersten (Würfel-)Beispiel, nicht zur Sprache. Es ist nur die Qualität der Handlung von Interesse.
Das sollen ja auch die kritischen Erfolge bzw. kritischen Mißerfolge abbilden.
Eine unterschiedliche Handlungsqualität als die normal zu erwartende. In beiden Beispielen hätte der Charakter auch einfach bloß ein normales, angemessenes Trinkgeld geben können. Das hätte man sogar nicht einmal erwähnen müssen. Eher schon, falls der Ober wegen seiner Langsamkeit KEIN Trinkgeld erhalten hätte.
Man sollte sich auch bei würfelintensiven Systemen schon mal überlegen, ob überhaupt ein Wurf - d.h. eine Entscheidung durch Zufallsfaktor (Schicksal) - jetzt notwendig ist, oder ob nicht der Verlauf der Geschichte (Drama) bzw. die Vorkenntnisse und die Vorgeschichte des Charakters (Karma) die Zufallsentscheidung überflüssig machen.