Rabenflug

Lynx

Tinte im Blut
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13. April 2004
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Die Fortsetzung zu dem hier. Diesmal aber in kleineren Abschnitten, zur besseren Leserlichkeit.

Rabenflug
Die ganze Nacht lang hatte Enodia auf dem Bett gehockt und vor sich hin geweint. Wolf war nicht wieder gekommen. Erst als der Morgen graute hatte sie sich wieder bewegen können. Vorsichtig hatte sie nach der dunkelroten Feder getastet, die der Wind ihr geschenkt hatte. Gedankenverloren drehte sie diese nun zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Die Kälte hatte sich in Enodias Gliedern festgesetzt. Jede ihrer Bewegungen wirkte ein wenig steif und ungeschickt. Allmählich besann sie sich darauf, sich besser anzuziehen, bevor sie sich entgültig den Tod holen würde. Ungelenk schlüpfte sie in ihre Kleidung. Neben der Feder war diese ihr einziger Besitz. So hatte sie sich ihre Flucht nun wirklich nicht vorgestellt. Warum musste sie auch so unbeherrscht sein? Wenn eines wichtig war dann, dass man in solchen Situationen einen kühlen Kopf bewahren musste. Enodia beschloss für sich von nun an sich mehr am Riemen zu reißen. Mit einem neuerlichen Fluchtversuch würde sie wohl warten müssen. Sicher rechnete Wolf damit, dass sie nun auch versuchen würde durch das Fenster zu entkommen oder sich erneut irgendwie loszureißen. Resigniert betrachtete sie die rote Feder. Sie hatte nichts, worin sie diese verstauen konnte. In der Hosentasche würde sie nur kaputt gehen und sie ständig in den Händen zu halten wäre auch nicht sonderlich praktisch. Nach kurzem Überlegen flocht sie sich ihren neuen Besitz einfach in die Haare. Noch immer fühlte sie sich der Welt ein wenig entrückt. Alle Sinneseindrücke kamen ihr nach der langen Nacht so dumpf vor, als müssten sie sich durch einen dichten Schleier zu ihr durchkämpfen. Geistesabwesend trat sie ans Fenster und blickte hinaus.
Sie bemerkte nicht, wie sich lautlos die Zimmertür öffnete und wieder schloss. Leise trat Wolf an sie heran. Erst als er ihr ganz nahe war, sprach er sie an.
„Guten Morgen“,
raunte er ihr zu. Enodia zuckte zusammen. Sie hatte ihn bis dahin nicht bemerkt. Schlagartig bildete sich ein dicker Klos in ihrem Hals. Ihr Herz schlug automatisch etwas schneller. Stocksteif stand sie da und harrte darauf, was nun passieren würde.
Wolf strich ihr langsam eine Strähne hinter das Ohr. Enodia schluckte, Angst machte sich in ihr breit.
„Na, hast du gut geschlafen? Nein, mit Sicherheit nicht.“
Sein Lachen war leise aber dennoch wummerte es in ihrem Ohr wieder. Angespannt versuchte Enodia ihn aus dem Augenwinkel zu betrachten, doch Wolf hatte sich so hinter sie gestellt, dass sie sich hätte zu ihm umdrehen müssen. Als er mit seinen Fingern über ihre Wange strich, kniff Enodia die Augen zusammen und wünschte sich weit fort.
„Wie... angenehm, dass du so brav den Mund hälst. Bist ja doch noch ein braves Mädchen geworden. Glaub mir, wenn du schweigst wird es dir dein Leben erleichtern, außer natürlich, du wirst nach etwas gefragt. Aber ich denke, du verstehst was ich damit meine.“
Wieder lachte er leise. Krampfhaft versuchte Enodia ihr Zittern zu unterdrücken. Sie hatte panische Angst. Was würde dieser Mann nun mit ihr machen? Ihr Verstand konnte es ihr ganz genau erläutern, bis ins kleinste Detail. Doch ihr rasendes Herz unterdrückte diese Visionen. Wolf fuhr mit seinem Monolog fort.
„Jetzt möchte ich aber, dass du singst, mein Vögelchen. Sag mir, wer sind deine Freunde?“
Sie verstand nicht was er meinte. Fragend öffnete sie die Augen und starrte nachdenklich aus dem Fenster. Enodia hatte keine Freunde und ihr einziges Familienmitglied hatte Wolf erschossen. Mühselig quetschte sie ein paar Worte hervor.
„Ich... weis nicht was du meinst. Ich habe niemanden ... mehr.“
Wolf beugte sich ein wenig zu ihr herunter. Seine Lippen streiften fast ihr Ohr.
„Du weist genau wen ich meine. Also, verarsch’ mich nicht oder du wirst es bitter bereuen.“
„Aber ich...“
Enodia fühlte, wie sie am Arm gepackt und herumgerissen wurde. Angsterfüllt blickte sie in seine zornigen Augen. Dann traf seine Hand hart ihr Gesicht. Ihre Lippe platze wieder auf und ein paar kleine rote Blutstropfen stoben von ihr fort.
„Wer?“,
Wolf schrie nun,
„Wer hat mich gestern von dir weggelockt?“
Tränen schossen Enodia in die Augen.
„Ich weis es nicht“,
stammelte sie.
„Ich weis es wirklich nicht!“
„Rede! Sag es mir oder ich prügel dich bis nach Franka!“
Wieder schlug er ihr ins Gesicht.
Enodia stolperte und wäre auch zu Boden gegangen, hätte Wolf sie nicht immer noch fest gehalten.
„Ich weis es doch nicht. Ich kenne keinen Richter!“
Ihre Stimme war zu einem flehenden Wimmern verkümmert. Plötzlich wurde es still im Raum. Wolf lockerte den schraubstockartigen Griff um ihren Arm und lies sie zu Boden sinken. Zitternd und schluchzend kauerte Enodia sich auf dem Boden zusammen.
„Gut, dann muss ich halt ein paar unbekannte Plagegeister erschießen, wenn sie mir noch einmal in die Quere kommen.“
Seine Stimme war vollkommen ruhig und gelassen geworden. Von einem Moment auf den anderen hatte sich sein komplettes Gemüt gewandelt. Er trat einige Schritte in Richtung der Tür und ließ Enodia liegen.
„Ich habe übrigens einen Abnehmer für dich gefunden. Sei so gut und mach dich gleich ein wenig frisch. Am Ende des Flures ist ein Bad. Und du weist ja, weder abhauen, noch den Schnabel aufmachen, sonst wird es der armen kleinen Munin nicht sonderlich gut gehen.“
Mit einem hämischen Grinsen verlies er sie.
Eine Weile blieb Enodia weinend auf dem Boden liegen. Erst als ihre schreckliche Angst ein wenig nachließ raffte sie sich zusammen. Es war im Augenblick besser sich nicht gegen diesen düsteren Mann durchzusetzen. Innerlich zweifelte sie auch daran.
 
AW: Rabenflug

Gehorsam folgte sie ihm hinaus. Zwischen den Hütten hatte sich nichts verändert, seit sie angekommen waren. Gespannt harrte Enodia darauf, um was für einen Abnehmer es sich wohl handeln musste. Wolf führte sie zwischen den Hütten hindurch, aus der Ansiedlung heraus. In einiger Entfernung standen die größten Fahrzeuge, die sie jemals gesehen hatte. Enodia kannte nur Motorräder und die geländegängigen kleinen Autos der Spitalier. Was sich ihr dort in der borkischen Ebene aber offenbarte war gigantisch. Zwei Fahrzeuge, größer als eine ganze Hütte und so hoch wie zwei. Staunend stolperte sie darauf zu.
„Das sind Neolibyer. Wenn du glaubst ich sei hart zu dir, wart’s ab, bis du deinen zimperlichen neuen Herren begegnest.“
Offensichtlich hörte Wolf bereits bare Münze klingen, denn er setzte ein breites Grinsen auf. Schnellen Schrittes begaben sie sich zum Lager der Libyer. Ein Mann mit Haut so dunkel wie Ebenholz kam ihnen entgegen. Wolf presste ein paar Worte in einer fremden Sprache, sie mutmaßte Libysch, durch sein Haifischgrinsen hervor. Der schwarze Mann entblößte seinerseits eine weißliche Zahnreihe und bat die beiden dann, ihm zu folgen. Sie wurden zu einem etwas rundlichen Libyer geführt, der gerade ein paar anderen seltsam klingende Befehle erteilte. Seine dicken kleinen Finger waren mit goldenen Ringen bestückt und um seinen Hals baumelten gleich drei Ketten desselben Materials. Gemächlich wandte er sich seinen Besuchern zu.
„Wolf, wie immer ist es mir eine Freude, wenn Sie mich beehren. Womit kann ich Ihnen diesmal dienen?“
„Die Freude liegt ganz auf meiner Seite, Mehai. Ich darf wohl davon ausgehen, die Geschäfte laufen so gut wie eh und je?“
Noch immer grinsend nickte Wolf dem dicken Libyer zu. Bei so viel scheinheiliger Schleimerei drehte sich Enodia beinahe der Magen um.
„Bestens, bestens. Aber lassen wir die Höflichkeiten beiseite, mein Freund und kommen wir zum Grund dieses Besuchs. Meine Männer brechen bereits das Nachtlager ab.“
„Sie wissen warum ich hier bin. Vorräte aufstocken.“
„Ah, es geht also wieder einmal auf die Jagd. Nun, vielleicht habe ich da etwas für Sie.“
Auf einen wink des Händlers trat ein anderer, schmächtiger Libyer herbei und reichte Wolf ein Bündel. Vorsichtig wickelte Enodias Häscher es aus und begutachtete den Inhalt. Der Händler fuhr unterdessen fort:
„Das ist das beste Stück, was ich feil zu bieten habe. Allerdings glaube ich kaum, dass Sie es sich leisten können, falls Sie überhaupt daran interessiert sind.“
Offensichtlich war das Wolfs Stichwort gewesen. Barsch stieß er Enodia in den Rücken, sodass sie ein paar Schritte nach vorne stolperte. Erfreut stieß der Libyer ein kurzes Lachen aus,
„Ha. Das ändert die Sache natürlich.“
Enodia wusste gar nicht, wie ihr geschah, als dieser Mehai damit begann, sie abzutasten. Seine dicken Wurstfinger wanderten über ihren Körper, als sei sie nur ein Stück Fleisch, dass es zu bewerten ging.
„Nicht schlecht, nicht schlecht“,
sagte er und schob ihre Lippen auseinander, um einen Blick auf ihre Zähne werfen zu können.
„Ein bisschen dünn vielleicht und verletzt ist sie außerdem. Aber sie hat gute Zähne.“
„Und blonde Haare...“,
fügte Wolf beiläufig hinzu.
„Oh ja, langes, schönes Haar. An für sich ein schönes Stück, das Sie mir da anbieten, Wolf.“
„Wenn Sie die Kleine haben wollen, müssen sie aber noch ein wenig drauflegen. Ihr Gewehr scheint mir ein wenig alt zu sein.“
Mit kritischem Blick prüfte der Jäger die Waffe und schien von Munin schon gar keine Notiz mehr zu nehmen.
„Nicht mehr ganz neu? Das verbitte ich mir, Wolf. Ich vertreibe nur gute Waren!“,
die Augen des libyschen Händlers funkelten ein wenig zornig,
„Aber gut, ich bin kein Unmensch. Für einen so speziellen Kunden lege ich noch eine volles Päckchen Munition mit drauf.“
„Ich glaube wir kommen ins Geschäft“,
Wolf wirkte nun sichtlich zufrieden und auch Mehai war diesem Tauschhandel doch recht zugetan. Völlig ungeniert griff er Munin an den Po. Der Ekel stand ihr ins Gesicht geschrieben und sie mochte sich gar nicht vorstellen, in Zukunft diesem Mann zu gehören. So einfach wollte sie sich nicht in dieses Schicksal fügen. Sie musste hier fort, die Frage war nur wie? An einem Ort wie diesem war eine Flucht völlig ausgeschlossen.
„Unter welcher Kennung läuft die Waffe und wie sieht es mit dem Index aus?“,
wollte Wolf wissen.
„Das ist eine modifizierte HK-49“,
behauptete Mehai,
„Bei den Hellvetikern sollten Sie damit nicht unbedingt vorbeischauen. In Justitian müssen Sie sich weniger Sorgen machen. Die Richter verbieten die `49 zwar...“
„`47“,
unterbrach Enodia ihn. Beide Männer fuhren zu ihr herum und starrten sie mit einer Mischung aus Ärger und Verwunderung an.
„A- auf der Waffe steht ...47...“,
sagte sie zaghaft. Mehai lächelte plötzlich ein wenig gequält,
„Wolf, Sie haben mir ja gar nicht erzählt, wie talentiert sie ist...“
„47?“,
Wolf hob eine Augenbraue.
„Oh, ah ja, mein Fehler. Entschuldigen Sie bitte den kleinen Zahlendreher. Ähh, was halten Sie davon, wenn ich als kleine Wiedergutmachung noch zwei Mal Munition drauflege.“
Enodia schaute ein wenig verunsichert zwischen dem nun sehr nervösen Libyer und Wolfs finsterer Miene hin und her.
„Vergessen Sie’s.“
Mit einer raschen Handbewegung deckte Wolf das Gewehr wieder zu und drückte es Mehai vor die Brust.
„Der Deal ist geplatzt.“
„Warten Sie, immer mit der Ruhe. Wir werden uns sicher einigen können“,
versuchte der Händler verzweifelt die Situation zu retten. Wolf aber drehte sich nur zu Enodia um und packte sie unsanft an den Haaren. Ohne ein weiteres Wort ließ er den Libyer stehen und zog sie dabei grob hinter sich her. Tränen schossen ihr in die Augen, doch der Schmerz wurde zu einem großen Teil von Schadenfreude überdeckt. Lieber wurde sie von Wolf geschlagen, als dass sie diesem Africaner als Hure diente. So gut es ging, stolperte sie hinter Wolf her, der sie den ganzen Rückweg über am Schopf gepackt hielt.
 
AW: Rabenflug

weiter gehts...

Sie gingen zurück in das kleine Gasthaus, wo Wolf sie barsch in ihr Zimmer stieß. Die ganze Zeit über hatte er nichts gesagt und auch jetzt schwieg er sie zornig an. Enodia schluckte trocken und strich sich fahrig die Haare aus dem Gesicht.
„So“,
raunte Wolf nach einer Weile,
„Du kannst also lesen. Dann kannst du sicher auch schreiben.“
Sie nickte hastig. Was würde er jetzt mit ihr tun?
„Und wann hattest du vor, mir das zu offenbaren?“
Langsam kam er auf sie zu.
„Du hast... nicht gefragt.“
Ihre Stimme kam ihr wie das leise Piepsen einer Maus vor. Angst legte sich wie eine frostige Faust um ihr Herz.
„Oh, ja wenn das so ist. Gibt es denn sonst noch etwas, wovon ich vielleicht wissen sollte?“
Rasch schüttelte sie den Kopf.
„Wirklich nicht? Weist du, ich möchte mich nicht noch einmal über dich ärgern.“
„Wirklich“,
presste Enodia hervor.
„Gut. Sehr gut. Ich hoffe, wir verstehen uns ab jetzt.“
Er fasste sie an den Schultern und bugsierte sie auf die Pritsche.
„Warte hier, bis ich wieder komme.“
Sein Blick reichte völlig aus, um jeden Widerstand für den Moment zu ersticken. Enodia nickte stumm und wartete, bis Wolf den Raum verließ.
Als sich die Tür geschlossen hatte, atmete sie erleichtert auf. Er hatte sie nicht verkauft und vor allem auch nicht selber Hand an sie gelegt. Schlagartig fiel ein großer Teil ihrer Anspannung von ihr ab. Ein paar Male atmete sie tief ein und aus, um ihr wild pochendes Herz zu beruhigen. Begann sich ihr Schicksal langsam zum Positiven zu wenden? Vielleicht wurde Wolf ja tatsächlich etwas nachgiebiger, jetzt wo sie einen gewissen Nutzwert hatte. Gedankenverloren stand Enodia auf und ging zum Fenster. Draußen schien alles friedlich und ruhig zu sein. Lediglich zwei düstere Gestalten drückten sich zwischen den Hütten herum. Sie wären ihr eigentlich gar nicht weiter aufgefallen, hätte einen von ihnen nicht eine rote Feder an ihrem Mantel hängen gehabt. War das ein Zufall? Nachdenklich tastete sie nach der Feder in ihrem Haar. Wer waren diese Leute? Gab es vielleicht am Ende doch noch Hoffnung auf eine Flucht? Enodia musste an das Gesicht des rothaarigen Mannes denken. War er etwa doch kein Hirngespinst gewesen und während des roten Sturms tatsächlich an ihrem Fenster erschienen? Und was war mit diesem mysteriösen Richter, der Wolf von ihr fort gelockt hatte? Wieder begannen endlos viele Fragen in ihr zu brennen und sie wusste, dass sie hier in diesem Raum wohl kaum eine Antwort darauf finden konnte. Regungslos stand sie da und dachte nach. Es war schon lange dunkel geworden, als Wolf beinahe lautlos das Zimmer betrat.
„Denk gar nicht erst daran“,
begrüßte er sie,
„Du kämst eh’ nicht weit.“
„Ach wirklich?“
Sie wandte sich nicht zu ihm um, wollte nicht in seine furchteinflößenden Augen blicken.
„Mit Sicherheit nicht. Dein Bein ist noch nicht verheilt und du kennst dich im Gelände nicht aus. Glaub mir, du wärst schneller wieder hier, als dir lieb ist.“
Bildete sie sich das nur ein, oder war sein Ton tatsächlich einen Tick freundlicher geworden? Vielleicht lag es daran, dass sie jetzt mehr wert war, als die Kugel, die bis vor kurzem noch in ihrem Bein steckte.
„Lieb wär’ mir was anderes“,
murmelte sie leise.
„Lehn dich nicht zu weit aus dem Fenster“,
sagte er, als habe er ihre Gedanken gelesen,
„Du hast vielleicht ein wenig an Wert für mich gewonnen aber den kannst du auch genauso schnell wieder verlieren. Also sorge nicht dafür, dass ich mein persönliches Vergnügen über deinen Nutzen stelle.“
Enodia verzog das Gesicht. Arschloch, dachte sie sich und blickte weiter starr aus dem Fenster.
„Da draußen gibt es nichts zu sehen“,
knurrte Wolf,
„Komm her. Du wirst mir jetzt etwas vorlesen!“
Sie blieben noch einige Tage in der staubigen, kleinen Kneipe, bevor sie weiterzogen. Wolf hatte einiges zu lesen für sie, vorwiegend Steckbriefe. Enodias Bein verheilte glücklicherweise ganz gut, so dass sie bald wieder vernünftig laufen konnte. Seit dem missglückten Tauschhandel mit den Neolibyern hatte Wolf sie nur noch selten geschlagen, dennoch hatte sie noch immer große Angst vor ihm. Wenn er sie am Tage halbwegs in ruhe ließ, so verfolgte er sie nun des Nachts, in ihren Träumen. Noch immer drängte es sie von ihm fort, doch ihr Geist hatte sich bereits beinahe in ihre Gefangenschaft gefügt. Was für ein großartiger Aufstieg, dachte sie sich, von der Gefangenen habe ich es nun schon bis zur Sklavin geschafft!
Schweigend trottete sie nun hinter Wolf die Straße entlang. Immer wieder blickte er sich suchend um, wie er es auch schon beim ersten Mal getan hatte, als sie in offenem Gelände unterwegs gewesen waren.
„Los, mach schon!“,
trieb er sie an. Mit verzogener Miene beschleunigte sie ihren Schritt.
„Wovor hast du Angst?“,
murmelte sie leise.
„Ich bin immer noch nicht taub“,
grollte er einige Schritte vor ihr,
„Und wenn du dir keine fangen willst, hälst du ab jetzt besser die Klappe.“
„Und wenn nicht, ziehst du mir wieder deinen Gürtel über den Rücken?“
Patzig spuckte Enodia auf den Boden. Wolf blieb stehen und wandte sich zu ihr um.
„Ich hatte eigentlich gedacht, dir sei mittlerweile klar wie das läuft. Ich gebe die Kommandos und du spurst. Oder liegt die letzte Lektion so weit zurück, dass ich sie hier und jetzt noch einmal auffrischen muss?“
Finster blickte er sie an. Enodia schluckte beinahe unmerklich und schüttelte schweigend den Kopf.
„Na also, geht doch. Und jetzt beeil dich, Munin!“
Rasch wandte er sich wieder von ihr ab und folgte weiter der Straße. Dennoch wollte Enodia nicht aufgeben. Er war ihr noch immer eine Antwort schuldig.
„Was ist hier draußen?“,
fragte sie, nachdem sie ihm eine Weile schweigend gefolgt war.
„Etwas das du noch weniger anstreben solltest, als meine Gesellschaft. Wir befinden uns im Gebiet der Roten Klauen. Glaub mir, wenn die dich in die Finger kriegen, wünscht du dir, wieder bei mir zu sein.“
„Ui, toll. Und was ist an denen so besonderes, außer dass sie vom Staub ganz rote Finger haben?“
„Hast du schon mal von Apokalyptikern gehört?“
„Nein“,
log Enodia. Natürlich hatte Odin ihr von diesen Zugvögeln schon erzählt. Sie rotteten sich in sogenannten Schwärmen zusammen, um über die Gegend herzufallen. Apokalyptiker waren der erklärte Feind von Richtern und Spitaliern und so ziemlich jedem, der für so etwas wie Zucht und Ordnung stand. Sie unterhielten Bordelle, verkauften Drogen und marodierten, wo sie nur konnten.
„Keine angenehme Gesellschaft“,
knurrte Wolf,
„Mehai wäre gegen die noch ein angenehmer Sklaventreiber gewesen.“
„Genauso wie du“,
murrte Enodia. Ihr Begleiter schien ihren Kommentar diesmal überhört zu haben. Er schien es nicht weiter für nötig zu halten, sie weiter über diese Roten Klauen aufzuklären. Ihr sollte das nur recht sein. Schweigend trottete sie hinter ihm her, kam aber nicht umhin nun auch selbst immer wieder den Horizont abzusuchen. Etwas enttäuscht musste sie feststellen, dass sie nichts entdecken konnte, außer der staubigen Einöde. Als sie sich ihrer Enttäuschung gewahr wurde, erschrak sie ein wenig. Wünschte sie sich etwa ein Zusammentreffen mit ein paar Apokalyptikern herbei? Wenn diese Zugvögel hier auftauchten, konnte das sehr gefährlich für sie werden. Im Gegensatz zu Wolf würden sie nicht zögern, ihr etwas anzutun. Dennoch verspürte Enodia eine leichte Neigung dazu, in einen solchen Konflikt zu geraten. Seufzend zwang sie sich weiter. Ihre Füße taten ihr vom langen Laufen weh und der rote Staub war mittlerweile allgegenwärtig.
„Ich habe Durst!“,
maulte sie Wolf an und wappnete sich schon mal auf ein paar drohende Entgegnungen. Doch auch Wolf schien sie enttäuschen zu wollen.
„Wir trinken, wenn wir rasten“,
knurrte er tonlos in ihre Richtung,
„Es wird bald dunkel. Dann werden wir ein Lager aufschlagen.“
Ärgerlich verzog Enodia das Gesicht und streckte Wolfs staubigem Rücken die Zunge heraus. Müde schleppte sie sich weiter.
„Schlaf endlich!“,
befahl Wolf und blickte sie über die Flammen des kleinen Lagerfeuers hinweg an. Im Schein der Flammen glommen seine dunklen Augen wie finstere Kohlen. Trotzig versuchte Enodia wach zu bleiben. Sie wusste, dass er erst ruhen würde, wenn er nicht darum fürchten musste, dass sie versuchte zu fliehen. `Also kann es gar nicht so aussichtslos sein, von hier weg zu kommen´, dachte sie sich und unterdrückte ein Gähnen. Fröstelnd rückte sie noch ein wenig näher ans Feuer heran.
„Laufen wir morgen wieder so lange?“
„Das hat dich nicht zu interessieren.“
„Du hast Angst, ich könnte fliehen.“
Wolf lachte trocken.
„Hör’ zu, Munin, alternativ könnte ich dich auch einfach fesseln und knebeln, um meine Ruhe zu haben. Also strapazier meine Gutmütigkeit nicht zu sehr.“
„Oh, ich sollte mich jetzt wohl geehrt fühlen. Mein Sklaventreiber gönnt mir ein bisschen Bewegungsfreiheit.“
Ihr Gegenüber hob nur stumm eine Augenbraue. Sein Blick sagte alles. Sie hatte nun die Wahl die Klappe zu halten oder er machte wieder einmal Gebrauch von seinem Gürtel. Eine Weile herrschte eisige Stille. Maulig drehte Enodia sich um und starrte in die Dunkelheit hinaus.
„Schlaf jetzt“,
betonte Wolf noch einmal,
„Wenn du morgen nicht mithalten kannst, binde ich dir einen Strick um den Hals und schleife dich hinter mir her.“
Das erden wir ja noch sehen, dachte Enodia. Allmählich hatte sie tatsächlich das Bedürfnis zu schlafen. Der Boden war hart und kalt und das knisternde Feuer wärmte sie nicht annähernd so stark, wie sie sich erhofft hatte. Dennoch schrieen ihre Glieder nach Ruhe und auch ihre Augenlider wurden scher wie Blei. Dunkelheit umfing ihre Sinne.

Plötzlich zuckte Enodia zusammen. Hatte sie geschlafen? Oder waren ihr die Augen nur für ein paar Sekunden zugefallen? Sie wusste es nicht. Müde blinzelte sie in die Dunkelheit hinaus. Hatte da ein Zweig geknackt? Vielleicht war es auch das leise Schlagen eines Steins gewesen. Was auch immer es war, sie war felsenfest davon überzeugt, dass sich in einiger Entfernung etwas bewegt hatte. Vielleicht war es ja ein Gendo oder ein anderes herumstreunendes Tier. Regungslos blieb sie liegen und schloss die Augen. Von Wolf war nichts zu hören, anscheinend schlief er. Wieder meinte Enodia etwas zu hören, dieses Mal jedoch aus einer anderen Richtung. Angespannt lauschte sie. Waren das Schritte? Es klang beinahe so, als würde jemand um ihr kleines Lager herumschleichen. Eigentlich wäre das jetzt wohl der Moment gewesen, in dem sie Wolf hätte warnen sollen. Eigentlich... Gehässig dachte sie an den Mann auf der anderen Seite des Feuers. Wenn sie überfallen wurden, bekam sie vielleicht die Chance zu fliehen. Wolf würde völlig überrascht werden und den Angreifern hoffnungslos ausgeliefert sein. Bei dem Gedanken an eine Flucht schlug ihr Herz gleich ein paar Takte schneller. In einiger Entfernung bewegte sich ein Schatten. Nach einer Weile meinte Enodia erkennen zu können, wie eine düstere Gestalt an das Lager heranschlich. Wenige Meter von ihr entfernt, blieb der Schemen plötzlich stehen. Kurz erhob er die Hand und machte irgendeine Geste nach hinten. Offensichtlich war er nicht alleine. Ein Lächeln legte sich auf Enodias Lippen und sie blickte der Person genau ins Gesicht. Der andere zögerte. Hatte er nun gesehen, dass sie ihn anblickte oder war sein Abwarten reine Vorsicht? `Los, mach schon, ich werde keinen Alarm schlagen´, dachte Enodia und blieb geduldig liegen. Nichts passierte.
„Feigling“,
wisperte sie kaum hörbar und richtete sich dann auf. Ihr Gegenüber erstarrte. Dann, ganz plötzlich, tauchten weitere Schatten um das Lager herum auf. Die meisten von ihnen nahm sie nur aus dem Augenwinkel war aber das Klackern etlicher kleiner Steine signalisierte ihr, dass es wohl einige Angreifer sein mussten. Wenn sie sich denn mal endlich zu einem Angriff durchringen konnten. Ungeduldig stand Enodia auf. Ein plötzliches Rucken an ihrem Hosenbund ließ sie in der Bewegung erstarren. Erschrocken schaute sie an sich hinab. An ihrem Hosenbund spannte sich eine dünne Schnur, die an Wolfs Handgelenk endete. Dieser hatte das Lagerfeuer ein Stück weit umrundet, bevor er sich zur Ruhe gelegt haben musste. Leise fluchend starrte sie ihren Häscher an. Genau in diesem Moment schlug Wolf seine Augen auf. Ein diabolisches Lächeln umspielte seine Lippen. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, stürmten die dunkel gekleideten Gestalten das Lager. Wie lebendig gewordene Schatten stießen sie aus der Dunkelheit hervor. Enodia schluckte. Es waren mehr Männer, als sie erwartet hatte. Doch sie hatte jetzt keine Zeit sich über die zahlenmäßige Überlegenheit ihrer Gegner den Kopf zu zerbrechen. Viel wichtiger war nun, von Wolf los zu kommen. Dieser riss sie erbarmungslos an der Schnur zu sich heran. Stolpernd gab Enodia dem Impuls nach und versuchte verzweifelt ihren Hosenbund zu befreien. Unsanft stieß sie mit dem Kopfgeldjäger zusammen. Erschrocken starrte sie ihm für einige lähmende Sekunden in die dunklen, schmalen Augen.
„Hier, nimm das“,
grollte er plötzlich und drückte ihr irgendetwas in die Hände,
„Aber mach keine Dummheiten damit, sonst sind wir beide tot.“
Enodia öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen aber sie brachte nicht einen Ton heraus. Wolf wandte sich von ihr ab und griff nach seinem Gewehr. Wie fließend und schnell er sich mit einem mal bewegen konnte. Bislang war Enodia diese Leichtfüßigkeit noch nie aufgefallen. Erstaunt und auch ein wenig verwirrt starrte sie auf das Ding in ihren Händen. Im schwachen Licht des Feuers glänzte ihr stumpf ein schwerer Dolch entgegen.
Na so geht’s auch, dachte sie sich und durchtrennte kurzerhand die Schnur. Wolf rang unterdessen mit einigen Angreifern, allerdings konnte Enodia nicht wirklich viel vom Kampf der düsteren Gesellen erkennen. Das helle Aufleuchten eines Mündungsfeuers zuckte durch die Schatten und einer von ihnen ging zu Boden. Schreie vermischten sich mit unverständlichen Worten. Offensichtlich machte Wolf kurzen Prozess mit seinen Gegnern. Jetzt war ihre Chance gekommen. Endlich würde sie in die Freiheit flüchten können. Mit einem triumphierenden Lächeln wandte sie sich um und erstarrte. Vor ihr ragte drohend der schwarze Schatten eines Mannes auf. Finster grinsend blickte er auf sie herab. Das unregelmäßige Flackern des Feuers zauberte geisterhafte Schatten auf sein Gesicht. Drei blutige Striemen zogen sich über seine linke Wange. Enodia hielt den Atem an. Ihre Finger schlossen sich feste um den Griff des Dolches. Sekundenlang stand sie regungslos vor ihrem Gegner. Dessen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Dann ging alles ganz schnell. Plötzlich schoss die Hand des Mannes nach vorne und schlug ihr vor den Brustkorb. Der Schlag war nicht besonders fest und Enodia glaubte schon beinahe mit jemand recht schwächlichem konfrontiert worden zu sein, als sie den Widerstand in ihrem Knöchel spürte. Anstatt nach hinten zurück zu weichen, blieb sie am Fuß ihres Gegners hängen und verlor das Gleichgewicht. Er hatte ihr einfach ein Bein gestellt. Mit einem kurzen, zornigen Aufschrei ging sie zu Boden. Hart schlug ihr Hinterkopf auf dem felsigen Untergrund auf. Funken stoben ihr in die Augen und schlagartig wurde ihr übel. Benommen ließ sie ihren Dolch los. Ihr Gegner setzte ihr nach und beugte sich zu ihr herunter die rechte zur Faust geballt. Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie sich der hervorstehenden Klingen am Handschuh des Mannes gewahr wurde. Eine zweite Gestalt bewegte sich am Rande ihres Blickfelds.
Ganz langsam drückte der Mann ihr die Klingen gegen die Wange.
„Schrei für mich“,
raunte er ihr zu und lachte gehässig. Enodia spürte, wie das scharfe Metall ihre Haut langsam ritzte, doch sie war nicht in der Lage, irgendetwas dagegen zu tun. Die Angst war nun Herr über ihren Körper und zwang sie mit eiserner Befehlsgewalt zu absoluter Starre.
„Warte!“,
drang plötzlich eine andere Stimme an ihr Ohr,
„Was ist das?“
Die zweite Gestalt kniete bei ihr nieder. Mit einer raschen Bewegung griff der Mann ihr in die Haare.
„Da, schau“,
sagte er ernst.
„Wieso hat das Mädel die?“,
fragte der Erste ein wenig beunruhigt,
„Ich mein, weist du was davon?“
„Nein, aber das hat nichts zu sagen. Du kennst die Regeln“,
Langsam erhob er sich und spähte in die Nacht hinaus,
„Sehen wir zu, dass wir abhauen. Der Kerl da hinten scheint nicht allzu viel bei sich zu haben.“
„Hey, nichts für ungut, Kleine“,
mit einem Mal war Enodias Angreifer nervös geworden,
„War 'nen Versehen.“
Auch er stand auf und folgte seinem Gefährten in die Nacht. Verwirrt blieb Enodia am Boden liegen. Zittrig tastete sie nach ihrem Kopf und bekam etwas zu fassen, was sie bis dahin beinahe vergessen hatte, die rote Feder. Dann hatte sie also doch etwas zu bedeuten. Immer noch ein wenig benommen spähte sie zu Wolf hinüber. Er lag am Boden, bewusstlos. Vorsichtig richtete sie sich auf. Ein dünnes Rinnsaal warmen Blutes lief ihren Nacken hinab. Die Welt um sie herum begann sich zu drehen, doch sie kämpfte den Schwindel nieder. Schluckend betrachtete sie ihre verwüstete Lagerstelle.
„Wartet!“,
rief sie plötzlich und fing an den Gestalten hinterher zu stolpern, die in den Schatten der Nacht verschwanden.
 
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