[Irgendwann kurz nach der Dämmerung] Unerlaubte Gedanken

Kalanni

Drachentochter
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15. Juni 2005
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Wie bei vielen modernen Gebäuden war auch das Flachdach des Hochhauses in dem Helena wohnte gegrünt und von einem verwilderten Rasen bedeckt, der hin und wieder auch Vögeln eine Zuflucht bot. In mänchen Nächten bot er allerdings auch der Caitiff einen Ort der Einsamheit, Meditation und Ruhe, denn sie mußte immer wieder der Gesellschaft der anderen Untoten entfliehen. Hier war sie für sich - zumal so kurz nach Sonnenuntergang, wenn die meisten noch schliefen.

Sie war eine Caitiff, eine der Vampire, die von den anderen als Abschaum angesehen wurden und je länger sie lebte, um so mehr fragte sie sich, warum das denn so war, wie Abschaum kam sie sich nicht vor, schon lange nicht mehr. Der Tag an dem sie ihren Vorteil gegenüber allen Clans erkannt hatte, lag schon eine Weile zurück und sie frage sich nicht selten, ob die Ablehnung gegen jemanden wie sie nicht aus der Angst resultierte, wenn sich eine Line von Kainskindern aufschwingen wurde, die keine Clanseinschränkungen hatten. Und wenn die Legenden stimmten, so war auch Kain ein Caitiff gewesen, der seinen Enkeln den Makel erst aufgedrückt hatte, weil sie gesündigt hatten.

Es gab natürlich keine Hinweise, was denn Kain mit seiner Rasse vorgehabt hatte, aber eines war ihr klar, genauso gefährlich, wie das was in ihrem Inneren durch die Verwandlung freigesetzt wurde, so gefährlich war auch das was die Menschen schon immer gut konnten, nämlich Makel als ein Zeichen einer besonderen Berufung zu sehen, so war es schon bei Echnaton gewesen, über die Bluterkrankheit und andere Dinge, die eher eine Folge von Inzucht und Fehlerhaftigkeit als als Gegenteil waren.

Sie zog die Jacke enger um ihre Schultern. Wie hatte Einstein gesagt? „Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.“ Ersetzte man menschliche Dummheit durch kainitische Ignoranz, dann kam man zu einem ebenso passenden Schluß. Die Camarilla hatte die Ignoranz sogar kultiviert und vieles von dem, was sie an Wissen angesammelt hatte, galt als verboten, verpönt oder wurde ganz einfach ignoriert und nicht mehr weiter gegeben, in dem man die alten Legenden und Geschichten nicht weitergab, hielt man die Jungen unwissend und die Alten konnten ihre Macht ausbauen.

Buchet kannte Helenas Hobby, aber er nahm das Ganze nicht ganz ernst, hielt es vielleicht nur für einen netten Zeitvertreib seiner neuen Hüterin. Das Problem war nur, je mehr Informationen sie sammelte, um so mehr wurde ihr klar, daß in jeder der Geschichten ein Quentchen Wahrheit steckte. Wenn den nun Kain seine Kinder verflucht hatte, warum gab es dann immer mal wieder welche wie sie, vorallem solche, die nicht dünnblütig waren und trotzdem keine Clansmerkmale hatten. Reichte es, wenn jemand außerhalb des Clans aufwuchs, waren diese Clansmakel nur hausgemachte Fehler, weil man sie sich lange genug einredete? Würde Jonathan, wenn sie ihn irgendwann zeugte ein Toreador werden, weil sie als solche lebte oder würde er werden wie sie?

Ob sie das jemals herausfinden würde, außerdem war ein Versuch nicht genug, um dies zu verifizieren. Sie schüttelte den Kopf. Vermutlich würde es keinen überhaupt interessieren, es gab nur wenige, die sich überhaupt für etwas in der Art interessierten udn meistens erst dann, wenn sie selbst mit etwas, was sie nicht kannten konfrontiert wurden. Die Welt der Vampire war das Abbild der Welt der Menschen, alle waren auf der Jagd nach Aufüllung ihrer innerern Leere, indem man Zerstreuung suchte, nur wenige machten sich Gedanken jenseits der Jagd nach Macht und Geld ...

Irgendwo sah sie ihre Bestimmung darin, dieses Wissen zu sammeln und zu bewahren, vielleicht konnte sie es irgendwann doch weitergeben.

Ein Piepen ihrer Armbanduhr zeigte, daß es Zeit war, wieder nach unten zu gehen, sich in das Geschehen der Stadt einzumischen.
„Erkenne, wer Du im Kern deines Wesens bist, und dann werde es.“ Das hatte ihr Maria damals in Glasgow gesagt und das war bis heute gewissermassen ihr Antrieb, sonst hätte sie vielleicht irgendwann schon aufgegeben, aber noch kannte sie nicht alle Aspekte ihres Wesens und so war ihr Weg noch lange nicht zu ende.


Während sie wieder auf die Dachterasse stieg beendete sie alle diese Gedanken, aus der Caitiff, die auf ihre Clanslosigkeit stolz war, wurde wieder die Toreador, die sich bemühte für alle ein offenes Ohr zu haben.
 
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