Rezension Das Reich der Siqqusim

Nepharite

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Brian Keene - Das Reich der Siqqusim


[User-Rezi] von Nepharite


Jim Thurmond hockt in einem kleinen Bunker in Lewisburg, während draußen die Toten -darunter auch seine schwangere Frau- durch die Straßen wandeln, besessen von dämonischen Wesen, den Siqqusim, denen ein misslungenes physikalisches Experiment den Weg in unsere Welt ebnete.
Just in dem Moment, als sich der depressive Mann den Kopf wegschießen will, klingelt das Handy; am anderen Ende: sein kleiner, über alles geliebter Sohn Danny, der bei Jims Ex-Gattin in New Jersey lebt. Der Kleine hat sich nach eigenem Bekunden in einer Dachkammer versteckt, derweil Mutter und Stiefvater als Untote auf der Suche nach Frischfleisch durch das Haus streifen.
Für Jim gibt es kein Halten: ein neues Ziel vor Augen kämpft er sich aus dem noch sicheren Versteck und macht sich auf den langen Weg zu seinem Sohn. Dabei stellen nicht nur die Legionen humanoider Zombies ein schier unüberwindliches Hindernis dar, sondern auch untote Tiere machen Jagd auf die Überlebenden. Und als sei dieses nicht schon schlimm genug, erweisen sich viele Mitmenschen als wahre Monster, als Kannibalen oder grausame, paramilitärisch organisierte Mörder.
Doch selbst in dieser dunklen Zeit existiert noch Hilfsbereitschaft und so erreicht Jim schließlich dank der tatkräftigen Unterstützung einiger Mitstreiter -darunter an erster Stelle der alte Pfarrer Thomas Martin- nach einer "halben Ewigkeit" das Heim seines Kleinen. Ist er aber auch rechtzeitig eingetroffen, um Danny zu retten?
Und selbst wenn, so ist der Leidensweg der Überlebenden keineswegs beendet, denn sollten sie keinen sicheren Unterschlupf finden, wäre ihr Untod nur ein Frage von Tagen.
So zieht es sie zu einer der letzten Bastionen der Menschheit, dem schwer befestigten und scheinbar uneinnehmbaren Ramsey Tower in New York, in dem der Milliardär Darren Ramsey eine erklägliche Schar Überlebender um sich versammelt hat.

Während in den Schluchten der Metropole der Herrscher der Siqqusim, der Dämonenfürst Ob, seine Heerscharen zur letzten Schlacht gegen "das Fleisch" in Stellung bringt, um seinen in der Leere dräuenden Brüdern, Ab und Api von den Elilum und Teraphin, den Weg zu ebnen, wachsen in den Flüchtlingen zunehmend Zweifel an der Sicherhheit ihres Asyls; ihrer Führer Ramsey jedoch hat in seinem Erlöserwahn schon längst den Bezug zur Realität verloren.

Diejenigen, für die George A. Romeros Meisterwerk, "Dawn of the Living Dead", zugleich sowohl die eigentliche Geburtsstunde als auch Anfang vom langsamen, qualvollen Ende eines ganzen Genres markiert, dessen traurigen Höhepunkt -vorerst- der verzweifelte Versuch des Altmeisters selbst darstellt, mit "Land of the Dead" an die ruhmreichen Zeiten der späten 70er Jahre des vergangen Jahrhunderts anzuknüpfen, können dank der sprachlichen Kraft und Radikalität Keenes erleichtert aufatmen: Zombies sind nicht tot!

Zwar erfindet der Autor das Sujet nicht vollkommen neu, sondern bedient sich in Details durchaus hinlänglich bekannter Motive aus Film und Buch, jedoch geht er erstens in der expliziten Schilderung der Gewalt und -im wahrsten Sinne des Wortes- Unmenschlichkeit deutlich über das hinaus, was im Kino zumindest den Genre-Fan nur noch müde lächeln lässt, und spendiert zweitens den Untoten nach dem Motto "Pimp my Zombie" eine Art Rundum-Tuning.

Keenes Monster sind nicht länger die tumben Menschenfresser alter Schule, denen -langsam und dämlich wie sind- für ein perfektes Diner die Menschlein direkt zwischen die fauligen Zähne flattern müssen, sondern genauso schlau wie jene dämonischen Wesenheiten, welche von den entseelten Körpern Besitz ergreifen und die zudem Zugriff auf das Wirt-Wissen haben. Und auch wenn die Siqqusim nicht unbedingt der Inbegriff von Genialität sein mögen -ein Eindruck, der sich insbesondere im zweiten Teil des Romans aufdrängt-, so sind sie in der Lage, taktisch und strategisch zu operieren und -das unterscheidet sie grundsätzlich von den traditionellen Untoten- in moralischen Kategorien zu denken. Keenes Zombies sind böse, weil sie es sein wollen.
Darüber hinaus finden sie sich bestens in der technisierten Welt zurecht, können Pumpguns sprechen lassen oder im Cabrio durch die ausgestorbenen Städte cruisen; lediglich ihre Agilität lässt etwas zu wünschen übrig und die bekannte Zombie-Schwachstelle, das Zermatschen des Gehirns, setzt ihrem fröhlichen untoten Treiben gewisse Grenzen.
Abgerundet wird die gelungene Modernisierung des alten Themas durch einen ungewöhnlichen mythologischen Hintergrund von Ob & Co. sowie die Tatsache, dass sich die Siqqusim selbst für die Verzombiesierung von Mäusen nicht zu schade sind.

In Bezug auf die Gewaltdarstellung kennt Keene kaum Grenzen und Hemmungen: es wird verstümmelt, zerhackt, ausgeweidet, vergewaltigt, zerfetzt, zerrissen, gefressen von Frauen, Männern, Kindern, Säuglingen und aller Arten von Getier, dass es eine Wonne ist. Dabei hält sich die Abstumpfung des Lesers gegenüber dem Ansturm expressiver und exzessiver Szenen überraschenderweise in Grenzen, weil sich der Autor in der Schilderung unschöner und qualvoller (Un)Tode erstaunlich phantasievoll erweist (ich selbst kann mich an keinen nicht-indizierten Roman erinnern, in dem auf mehr Arten gestorben und getötet wurde) und -vor allem- eine solch beeindruckende Sprachgewalt an den Tag legt, dass sich die drastischen Bilder einem regelrecht ins Hirn brennen. Wenn sich ein untoter Embryo aus dem Leib seiner untoten Mutter frisst oder sich auf einer Säuglingsstation ein Zombie-Baby über die Kinder im Bettchen nebenan hermacht, dann lässt das nicht nur das Herz eines Vaters schneller schlagen.

Man täte dem Roman jedoch Unrecht, würde man ihn ausschließlich auf plakative Gewalt reduzieren, denn wie bei Romero geht es -ohne die Interpretation auf die Spitze treiben zu wollen- auch um den Zerfall der Zivilisation, der staatlichen Ordnung, der Verrohung des Individuums angesichts einer fundamentalen, objektiven Hoffnungslosigkeit, die Suche nach Sinn selbst in solcher Situation und nicht zuletzt das Vorführen bestimmter "Lifestyles" oder gesellschaftlicher Attitüden.
In seinen Protagonisten dekliniert Keene die meisten Spielarten menschlichen Leids, seelischer Abgründe und Schwächen, aber auch menschlicher Stärken durch. Dieses kann nur gelingen, weil selbst Nebenfiguren eine erstaunliche Tiefe aufweisen, obgleich ihr Hintergrund objektiv sehr spärlich ausgeleuchtet ist -lediglich Jim Thurmond stellt hier eine Ausnahme dar-, sie im Grunde Personen ohne Vergangenheit und schließlich auch ohne Zukunft sind, die im Hier und Jetzt leben und sterben. Denn der Autor hält sich an dieser Stelle nicht über Gebühr mit dem Runterbeten von nebensächlichen, aufgesetzt wirkenden Fakten aus der Vita der Charaktere auf -ein Vorgehen, durch welches viele seiner Kollegen ihre Figuren zu hohlen Ballons aufblähen-, sondern konzentriert sich auf Dialoge und die Darstellung der akuten Befindlichkeiten.

Stilistisch hebt sich "Das Reich der Siqqusim" ebenfalls wohltuend von Einheitsbrei routiniert runtergeschriebenem Mainstream-Horrors ab. Keene entwirft Bilder düsterer "Schönheit", bedient sich einer eindringlichen -zuweilen auch sehr pathetischen- Metaphorik und ist in der Lage, komplexe Sachverhalte auf das Wesentliche zu reduzieren. Wendungen wie "Unter ihnen war seine Frau, die im Tode ebenso nach Jim gierte wie im Leben." [S.7] oder "Das mutterlose Kind und die kinderlose Mutter erwachten in der Dunkelheit." [S. 488] mögen zwar im ersten Moment platt klingen, bringen aber dennoch die Beziehungszusammenhänge auf den Punkt.

Ein paar abschließende Worte zum Aufbau des Buches: hier folgt Keene einem "Getrennt marschieren, vereint schlagen"-Schema, indem er die (Haupt)Charaktere zunächst sukzessive einzeln einführt und ihre Wege erst im Laufe der Handlung verknüpft. Der ständige Wechsel zwischen Personen und Orten erfordert zwar ein wenig Konzentration, zumal einige Figuren nur ein kurzes Gastspiel halten, ist aber durchaus ohne größere Schwierigkeiten intellektuell zu meistern.
Bemerkenswert ist weiters, dass sich die beiden Teile des Sammelbandes, "Auferstehung" und "Stadt der Toten", deutlich unterscheiden sowohl hinsichtlich des Tempos, als auch der inhaltlichen Schwerpunkte. Gleicht "Auferstehung" einer Tour de Force durch eine Zombie-verseuchte Welt, also einer Art "Road Movie", so stellt sich im zweiten Teil, in dem zahlreiche neue Charaktere eingeführt werden, die taktische Ausgangslage grundlegend anders und und um einiges "ruhiger" dar. Zudem nimmt sich der Keene hier viel Zeit, den mythologischen Hintergrund und die Motivation der Siqqusim zu erläutern, ohne dabei die Action- und Gore-Elemente zu kurz kommen zu lassen.

Das einzig nennenswerte Manko des Romans -besser der Romane- sind sein etwas statischer Plot und ein gewisser Mangel an Spannung, der daraus resultiert, dass das Szenario von Beginn an glaubhaft nur auf eine einzige Art enden kann (und es auch konsequenterweise auch tut): nämlich mit dem Untergang der "Schöpfung". Doch bis es schließlich soweit ist, kann sich der Leser an vielen "unschönen" Details ergötzen.

Fazit: Exzellent geschriebener, apokalyptisch düsterer "Splatter & Gore"-Roman; einer der besten des Genres und ein Muss für jeden Fan roher Gewalt.

Titel: Das Reich der Siqqusim
(Sammelband: Auferstehung / Stadt der Toten)
OT: The Rising / City of Dead
Autor: Brian Keene
Ü: Michael Krug
Seiten: 490, HC mit Schutzumschlag
ISBN 13: 978-3-9502185-1-0
Verlag: Otherworld Verlag, 2006Den Artikel im Blog lesen
 
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