Anna hörte wie gewöhnt still und aufmerksam zu. Das einzige, was das gewohnte Bild störte, waren ihre Hände, die sich ausnehmend zärtlich über den Körper des Raben bewegten, ja es waren wirklich beide Hände, die sich mit ihm beschäftigten, so bald er auf ihren Schoß sprang. Wenn er etwas kräftiger an ihre Hand stieß, begann sie durchaus auch, seinen Nacken und Kopf ein wenig fester zu bearbeiten, so wie es dem Raben zu gefallen schien. Es machte ihr anscheinend keine große Mühe dem Ancilla zu zu hören und gleichzeitig auf die Bedürfnisse des Tieres zu achten.
Mein Gott jetzt hat er's, Mein Gott jetzt hat er's, dachte Anna in der Anlehnung an ein gewisses Lied, durchaus auch mit entsprechender Melodie im Kopf Na ja. Wenigstens fast
„Sie haben mir von ihrem Lebenslauf berichtet. Ich will ihnen diesen Gefallen erwidern. 1985 machte ich meinen Magister in Archäologie. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mit der übernatürlichen Welt lediglich in Form von Mythen und Sagen zu tun. Eine Woche nach dem Erhalt meines Magisters hatte ich ein Vorstellungsgespräch in einer privaten Bibliothek, in der ich mich nicht beworben hatte. Ich selbst wollte einen Doktortitel anstreben, aber da die Welt der Archäologen klein ist, wollte ich einen späteren möglichen Arbeitgeber nicht verstimmen und stimmte dem Gespräch zu. Dieses Vorstellungsgespräch begann ohne Wahl und Frage mit meinem Tod und mündete in meiner jetzigen Anstellung bei unserem Clan.“
Anna machte sich nicht die Mühe, dem Ancilla ihr Lebensalter in Kainitischen Jahren vor zu rechnen. So viel Intelligenz schrieb sie dem Herren dann doch zu, die zarten dreizehn Jahre erkennen zu können.
„Mein Erzeuger, Herr Gülden, war mit der Wahl nicht zufrieden. Er hätte einen anderen Kandidaten vor gezogen. Ich nehme an, er hatte in Bezug auf mich eine Anweisung erhalten. Er fand einen effektiven Weg meinen Zugang zu Blut stark zu beschränken, ohne dass ich deswegen Beschwerde hätte einlegen können. Nach aussen hin sah es stets so aus, als würde er mir alles Nötige zur Verfügung stellen.“ Sie erwähnte nicht, dass sie ohne ausreichendes Blut kaum Möglichkeiten zum Probieren und Lernen hatte. Das verstand sich von selbst oder würde ignoriert werden. „Seine unterrichtenden Ausführungen zur Thaumaturgie und unseren Disziplinen waren ähnlich aufschluss- und inhaltsreich wie ihre heutigen Ausführungen gegenüber Herrn Grimm.
Vor zwei Jahren gelang es mir durch einen glücklichen Zufall, den ich nicht für einen Zufall zu halten vermag, den Mangel an Blut zu beenden. Innerhalb dieser Zeit erreichte ich den Großteil meiner Fortschritte und meinen heutigen Rang.“ Musste sie erwähnen, dass ihre Freisprechung weniger als zwei Jahre her war? Nope, ganz sicher nicht.
„Sie haben ja schon eine Idee bezüglich meiner Ausbildung und wie ich Ihnen bereits mitteilte, war Herr Gülden innerhalb gewisser Grenzen sehr einfallsreich. Die Grenze zog er bei bleibenden Schäden, die er vermied. Alles andere konnte seiner Meinung nach meinen Lerneifer nur fördern und vielleicht wenigstens etwas kompetentes zu Tage fördern. Ich wünsche nicht, dieses Thema weitergehend zu erörtern.
Ich bin mir bewusst, dass meine Ausbildung noch schwerwiegende Mankos aufweist und bemühe mich, sie zu beheben. In einigen Teilbereichen wie der Etikette ist sie hingegen hervorragend. Allerdings beziehen sich meine Kenntnisse primär auf die theoretische Ebene, da ich wenig Gelegenheit hatte, ausserhalb des Gildenhauses aktiv zu sein.
Vor ungefähr zwei Wochen wurde ich nach Finstertal versetzt, eine Stadt, von der man mir lediglich mitteilte, dass sie für die hohe Todesrate unter unseresgleichen bekannt sei.“
Ihre Finger beglückten den Raben unermüdlich, wechselten von sanften Berührungen zu fast massierenden Bewegungen und sparten keine Stelle aus, die der Rabe ihr zu seinem Vergnügen unter die Finger kommen ließ. Ihre Stimme blieb gewohnt monoton, auch ihre Aura veränderte sich nicht. Weder Demut noch Stolz waren an irgend einer Stelle heraus zu hören. Sie berichtete schlicht neutral.
„Kommen wir zu ihren Anmerkungen zu jenem hypothetischen Gespräch.
Grimms Ziel und das Ziel unseres Clans wäre Zieglowski, in so fern stimme ich mit ihnen überein. Jener Vertrag wurde nicht von Herrn Zieglowski temporär gebrochen, wenn ich die Umstände recht interpretiere, sondern durch seine Festsetzung. An diesem Punkt kann ich mich irren, halte es aber für unwahrscheinlich. Unser Clan versucht meines Erachtens nach Herrn Zieglowski bei guter Laune zu halten. In so fern glaube ich nicht, dass die Frau benutzt werden würde um ihn zu erpressen, sondern eher um ihm einen Gefallen zu tun.
Die Nosferatu? Ich habe nicht die geringste Ahnung, was die Intention der Nosferatu in diesem Zusammenhang ist. Lurker ist ein eher wortkarger Zeitgenosse und ich hatte nicht das Vergnügen eines persönlichen Gespräches mit ihm, auch wen ich ihn das eine oder andere Mal erleben durfte. Meiner Einschätzung nach tut er, was er für nötig hält, bleibt aber durchaus gern im Hintergrund. Seine Einstellung Zieglowski gegenüber ist wahrscheinlich nicht positiv.
Ich vermute lediglich, dass es unser Ziel sein soll, Herrn Zieglowski auf freien Fuß zu setzen. Das ist im Zusammenhang mit dem erwähnten Vertrag die einzige mögliche Schlussfolgerung, die ich mit meinen Informationen in der Lage bin zu sehen. Ich wiederhole mich gern noch einmal. Wien oder Gefangennahme scheint nicht der Weg zu sein, auf dem unser Clan mit Herrn Zieglowski umgeht.
Sie mögen entschuldigen, dass ich in diesen Dingen auf Vermutungen angewiesen bin, da ich nur ungefähr eine Woche Zeit hatte, mich bisher mit den örtlichen Begebenheiten vertraut zu machen.“
Auch hier unterließ Anna es, dass sie dafür durchaus eine erstaunliche Menge an Details präsentieren konnte, auch wenn es ihren eigenen Bedürfnissen lange nicht genügte.
„In dieser Woche nahm ich bereits an einigen körperlichen Auseinandersetzungen mit Plagen und Werwölfen teil. Die sind hier nicht selten. Ich denke, ich brauche nicht explizit erwähnen, dass meine bisherige Ausbildung mich nur einen geringen Beitrag zu solchen Dingen leisten lässt. Ich leistete ihn im Rahmen meiner Möglichkeiten.
Mir wurde nicht mit geteilt, was Zacharias genau mit mir gemacht hat und ich bin mir nicht sicher, ob unser Clan es entschlüsseln konnte. Alle Kainiten der Stadt litten unter seinen geistigen Angriffen. Von einem anderen Opfer weiss ich, dass es wirkte wie in Starre. Blut vermochte es nicht aufzuwecken und als wir in eine Art Traumwelt gezogen wurden, benutzte Zacharias dieses Opfer in der Traumwelt um es mit geringem eigenen Willen nach seinen Wünschen handeln zu lassen. Ihre Worte waren wohl noch ihre, ihren Körper hatte sie dort nicht mehr unter Kontrolle. Ich kann ihnen nicht sagen, wie sie wieder zu Bewusstsein kam. Ich nehme an, dies war einer der Gründe, warum man mich nach Wien brachte.
Warum ich ein Interesse an ihrem Überleben habe? Ein anderer Adept kam gleichzeitig mit mir an und ist bereits verstorben. Ein anderer Kainit, den ich mochte, ist Zacharii erlegen und inzwischen tot wie ich annehme, verstorben in der Nacht, als ich meinen Ausfall hatte. Ich mochte Herrn Grimm nicht nach ihm fragen. Wenn es nach mir geht, möchte ich kein einziges weiteres Opfer, ganz gleich ob ich die Person nun mag oder nicht oder wie ich sie einschätze.
Woran sie die Archontin erkennen? Dadurch, dass sie in der Akademie ist und uns empfangen wird? Ich habe sie selbst noch nicht kennen gelernt – wie ich bereits erwähnte. Über diesen Methusalem der Nosferatu weiss ich nicht mehr als Herr Grimm uns mit geteilt hat.
Was einen klugen Kainiten unseres Clans angeht, nun, der würde sich hüten auch nur in irgend einer Form einen Gedanken zu hegen, der in Richtung Subordination gegen unsere Familie geht, insbesondere, wenn er meine kürzlichen Erfahrungen gemacht hat. Können sie erahnen, wie erfreulich es ist, wenn ihnen jeder einzelne Gedanke entrissen wird, gleich wie nichtig oder intim er ist, betrachtet und bewertet wird? Selbst wenn dieser Prozess nicht von Grausamkeit geprägt ist, kann ich ihn nicht als angenehm bezeichnen. Ganz gewiss wird ein kluger Kainit sich nicht jemandem anschließen, der anscheinend vor hat, sich wie ein Elefant in einem Porzellanladen zu bewegen und zu handeln bereit scheint, bevor er Informationen gesammelt hat. Sollte ich wieder dieser Prozedur unterzogen werden, was ich zu vermeiden suche, wird man sich sicher auch dieses Gespräch sehr genau ansehen, abwägen und beurteilen. Ich kann ihnen wirklich nur explizit raten, sich den Zielen des Clans nicht zu widersetzen. Ein kluger Kainit würde unter diesen Umständen nicht über mögliche Wege reden, über die er noch nicht einmal nachdenkt.“
Das Kraulen hörte nie auf, so lang der Rabe es mochte. Während ihrer letzten Sätze dachte Anna sehr präzise. Es gab keine Abschweifungen mehr, keine gedanklichen Kommentare. Nicht hier, nicht an dieser Stelle. Sie lehnte sich eh schon zu weit aus dem Fenster. Sie konnte es nicht gebrauchen, dass in einer Betrachtung dieses Gespräches etwas anderes als Urteil heraus kommen konnte, als dass sie versuchte ein anderes Clansmitglied wieder auf Linie zu bringen.
„Herr Trapper ist in seinem Auftreten ähnlich erfreulich wie Herr Grimm. Seinen Einstand feierte mit einer öffentlichen Hinrichtung, die die ansäßigen Kainiten einnorden sollte.“
Es gab eine kurze Pause.
„Mein Name ist Anna Lisa, gerufen werde ich Anna.“