AW: Wie sieht "euer" Shadowrun aus oder Verschiedene Sichtweisen auf die Welt
"Shadowrun IST pubertäres Geballer, Testosteron, Gun-Porn, die Moral von Raymond Chandler (He who has the gun makes the rules), Leichen, Kerosin und Chrom. Aufgepfropft darauf wurden Zwerge, Elfen, Trolle und Magie. Darum ist Shadowrun so peinlich. Darum ist Shadowrun so cool."
Der Punkt umreißt ziemlich gut eines der Probleme, die ich mit SR lange Zeit hatte: Das Setting war so, wie es in einigen Romanen und Quellenbüchern (NICHT ALLEN!) rüberkam, ZU peinlich. Und überhaupt nicht cool.
Meine "Baustelle" ist ja Berlin. Und da könnt ihr euch vermutlich schon denken, warum mir da zuweilen das Messer im Sack aufging, bei dem, was speziell im ersten Deutschland in den Schatten geschrieben wurde.
Aber man muss nicht erst rüber in Anarchozonen gehen: Auch das Agieren der Megakons ist mir etwas "zu platt böse". Die Johnsons und Schmidts werden oft derart detached und evil beschrieben, dass sie schon Karikaturen sind – aber eben nichts Glaubhaftes mehr darstellen.
Für meine persönliche Vision einer Spielwelt – egal ob SR oder nicht – benötige ich so etwas wie einen gewissen "Realismus". Das zu verlangen mag speziell bei SR mit seinen Elfen und Zwergen und Trollen etc. etwas dämlich klingen, aber was ich damit meine ist, dass auch ein Konzern im SR-Setting ein Konzern bleibt, und dass ein Konzern schon aus Gründen der Proftmaximierung und Risikominimierung vieles von dem ganzen "Bösen", was z.B. Aztech quasi so nebenher tut, schlicht nicht tun würde. Zumindest nicht in der Beiläufigkeit und bewussten Morallosigkeit.
Es wird mir bei manchen Autoren ein bisschen arg oft auf den "Böse"-Knopf gedrückt. Es reicht nicht, dass ein Unternehmen sich gewissenlos verhält, nein, in SR muss der Konzerner auch gleich ein kinderschändender Rassist sein, der Giftmüll aus Spaß verklappt und samstags zur Entspannung Leute tot foltert. Mich ödet das an, weil daraus keine glaubwürdigen Charaktere entstehen. Und der klischeehafte SR-Konzerner, der sich in seiner Luxussuite einen darauf abwedelt, dass alles nur ein Spiel ist und er so wahnsinnig detached, boah, das ödet mich XL an.
Deshalb habe ich den Fokus innerhalb des breiten SR-Spektrums anders gewählt. Dieser Fokus ist immer noch überzeichnet (für grausam-dystopischen und dadurch BEKLEMMENDEN Realismus hab ich ja Cyberpunk), aber eher in einer Film-Noir-mäßigen Verdichtung.
Viele meiner Ausarbeitungen zum Berlin-Setting 2071 (siehe betr. Thread oder
Aus Rabens Feder) haben eine "Verrealisierung" von SR zum Thema, sprich: Ein genauer Blick auf bestimmte Dinge im SR-Setting, die so wie sie präsentiert wurden keinen Sinn machen.
Beispiel 1: Berliner Mauer. Schönes Bild, cool und so, aber selbst die Originalmauer ging nicht um ganz Berlin, sondern nur um die Westhälfte. Eine Stadt von der Größe des Saarlandes zu ummauern ist ein irres Bauvorhaben, für das ich weder die Resourcen noch den Investitionswillen erkennen kann. Einzelne Straßensperren und vermauerte Zugänge an bestimmten "heißen Punkten", meinethalben. Aber wegen ominösen "marodierenden Banden aus Brandenburg" Berlin ummauern? Öhm. Nö.
Beispiel 2: Umweltverschmutzung in Berlin. Den Beschreibungen und dem Roman "im Fadenkreuz" nach verschmutzen die Konzerne fröhlich Berlins Gewässer, um ein paar Cent zu sparen. Halte ich in einer Welt, wo es Giftgeister gibt für nicht wirklich überzeugend. Aus Kosten-Nutzen-Sicht dürften die Konzerne schnell überein gekommen sein, die Entsorgung und Reinigung zentral zu organisieren, um dadurch Geld zu sparen – aber im Gegensatz zu den unorganisierten Anarchisten dürften die Kons den Willen und die Mittel haben, ihre Enklaven und Berlin als "Wirtschaftsstandort" weitgehend giftgeistfrei zu halten. Und 100 Müllmänner sind immer noch billiger als 1 Magier.