Tage der Vergeltung

Bismarck

Kopfgeldjäger
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9. März 2007
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Tage der Vergeltung


Prolog

Ein Schmerz durchzuckte Julius, als warme Topfen duftenden Blutes in seinen schmerzhaft zusammengezogenen, trockenen Rachen liefen. Der urplötzliche Lebensschub, der ihn von einer Sekunde zur anderen überkam und sein Bewusstsein stärkte, ließ ihn die qualvollen und unmenschlichen Schmerzen, die seinen kompletten Leib durchzogen, widerwillig spüren. Trotz der Gier nach dem Saft, der die reinste Vitalität in seine vertrockneten alten Glieder zurückrief, versuchte er seinen über die Jahrzehnte durch die Blutlosigkeit zu einem Leichengrinsen verzogenen, steifen Lippen zu schließen, um den höllischen Schmerzen zumindest für kurze Zeit Einhalt zu gebieten; doch ohne Erfolg.
Die Gier in ihm stieg von Sekunde zu Sekunde exponential und äquivalent zu seiner infernalischen körperlichen Pain an und sein wiedererlangtes Bewusstsein, das seine bisherigen Handlungen – wenn auch erfolglos- beeinflusst hatte, wurde so schnell wie er es wiedererlangt hatte auch schon wieder machtlos, so dass etwas Instinktives, Wildes in seiner Seele seinen Geist und sein kommendes Handeln einnahm: das Tier.
Sein Leib wandte und krümmte sich, begleitet von einem Geräusch, das dem Brechen von dünnen Holzstücken gleichkam, doch Julius nahm es kaum wahr und auch seine Höllenqualen klangen mit Eintritt seiner Raserei stetig ab. Sein Vorhaben war fortan ausschließlich von dem Erwerb von weiterem Blut geprägt. Als er seine Augen endlich im Stande war zu öffnen, sah er verschwommen die Person, die ihm als Blutquelle diente: eine Frau, die sich über ihn beugte und ihr aufgerissenes linkes Handgelenk, an dem das Blut unaufhörlich herabfloss, zum Besten gab. Jetzt war er im Stande eben dieses mit seinen Händen zu ergreifen und es voller Verlangen an seinen Mund zu pressen. Die Frau sprach zu ihm. Er achtete in seinem unkontrollierbarem Zustand nicht darauf, was sie sagte, dennoch wusste er, was sie wollte, denn ihr Tonfall und ihre Tonlage vermittelten ihren Appell nur zu deutlich. Sie wollte, dass er augenblicklich von ihr ablässt. Doch Julius, von der Raserei basierend auf seiner Gier geblendet und von dem bereits getrunkenen Blut gestärkt, ergriff blitzschnell ihre schwarzen Haare und zog sie gewaltsam zu sich herab: er hatte es auf ihre Aorta abgesehen. Die Frau, die sich ihrer Lage nun durchaus bewusst war, versuchte vergeblich mit all ihrer Kraft den bebenden Leib Julius’, der sie mit unbeschreiblicher Kraft in die Nähe seines Mundes zog, von sich zu drücken. Doch als er in eben dieser Situation zum Biss ansetzen, seine Fangzähne ins Fleisch seines Opfers graben und die erste, kraftvolle Fontäne ihrer Vitae auffangen wollte, spürte der außer Kontrolle geratene Vampir einen dumpfen Schlag auf seinem Kopf, der ihn wohl eher aufgrund des Überraschungsmomentes, der ihn erschrak, als wegen des Schmerzes heraus dazu brachte von der Frau abzulassen. Diese nahm, nachdem sie ihre Chance erkannt hatte, schnellstmöglich angemessenen Abstand von der Metallkiste und ihrem gefährlichen Inhalt, während sie die andere Person, die mit einem Knüppel Julius’ Kopf bearbeitet hatte, warnte. Doch die dritte Person, ein Mann, machte keine Anstalten sich fortzubewegen, denn er vermutete aufgrund ihrer mumienähnlichen Verfassung, dass die Kreatur, die sie erweckt hatten, noch nicht in der Lage war sich aufzurichten oder zu gehen – noch nicht.
Und tatsächlich war der Körper des Vampirs noch zu steif und verkrampft, als das er die Möglichkeit gehabt hätte sich aufzurichten. Innerhalb von ein paar Minuten ließ Julius’ Temperament sich wieder zügeln, nachdem seine Selbstbeherrschung die Triebe in ihm erfolgreich bezwingen konnte. Dies war eine Erleichterung für ihn, denn er hasste es die Kontrolle über sein Handeln zu verlieren. Genau genommen wollte er die Frau nicht angreifen. Er wollte sie nicht verletzen ... schon gar nicht töten. Sie hatte ihn schließlich erweckt, ja sogar aus seinem engen Gefängnis, einer in 2 Meter tiefen Erde vergrabenen Metallkiste, die sie und ihr Begleiter erst einmal finden und ausgraben mussten, befreit. Es gab also augenscheinlich keinen rationalen Grund für sein aggressives Vorgehen ... oder? Doch. Seine Gier nach Blut erweckte seine innersten animalischen Triebe. Das Tier trieb ihn an, sich mehr Blut zu verschaffen; Blut, das er dringendst benötigte um seinen jahrelangen Hunger zu stillen. Blut, das ihm Leben spendete. Blut, mit dem er in der Lage war seinen geschundenen Leichnam zu regenerieren und die schmerzhafte Verkrampfung seiner untoten Glieder zu lösen. Julius konzentrierte sich auf seinen Körper und versuchte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln eine Regeneration durchzuführen. Kribbeln durchfloss daraufhin seinen starren Leib und der Mann, der immer noch erwartungsvoll vor der Metallkiste stand, beobachte gebannt das Schauspiel, das sich ihm bot:
Die vertrocknete, papierähnliche und rissige Haut, die die Kreatur umgab, begann sich zu glätten, sich an aufgeplatzten Stellen zu schließen, sich von einem moosartigem Grün in ein natürliches, wenn auch blasses, Rosa zu verfärben. Die widernatürlich gekrümmten Glieder entspannten sich; die Innereien und Knochen schienen unter der Haut zu rebellieren; der Leib nahm plötzlich an Fülle zu und glich somit nicht mehr einer Mumie, sondern perverser Weise vielmehr dem eines ausgemergelten Mannes. Die Kreatur wandte und krümmte sich immer ausgelassener, die Bewegungen nahmen an Schnelligkeit zu, doch plötzlich... - Stille.
Die Frau im Hintergrund und der Mann neben der Kiste sprachen keinen Ton, auch bewegten sie sich nicht von der Stelle. In der nächtlichen Luft lag ein ungemütliches Silentium, das nur durch das Rauschen des kalten Herbstwindes und dem Niederprasseln des Regens gestört wurde.
Julius hatte den Vorgang abrupt gestoppt, als er registriert hatte, dass weitere Anstrengungen ihn nur wieder schwächen würden und er somit erneut Gefahr laufen würde dem Tier in ihm ausgesetzt zu sein. Zudem war es nicht mehr nötig sich weiter zu regenerieren, da er sich bereits wieder nahezu problemlos zu bewegen vermochte.
Er richtete sich auf und wurde sich in dem Moment seiner Schwäche basierend auf der Erschöpfung bewusst. Der Mann neben ihm stand immer noch an derselben Stelle, schwieg und wartete, was wohl geschehen werde. Der Vampir richtete seinen Blick nun auf die ihm ganz und gar unbekannte Person. Der Mann war stämmig und von mittelgroßer, kräftiger Statur. Seine Stirn bot einen auffallend niedrigen blonden Haaransatz und seine nach unten hängenden Gesichtszüge machten den komischen Eindruck, als würden sie von der Schwerkraft besonders in Mitleidenschaft gezogen werden, wie auch seine muskulösen Arme, die ebenso lasch herabhingen. Alles in allem machte der in Julius’ Augen wie ein augenscheinlicher Strauchdieb gekleidete Kerl einen recht dümmlichen und rauen Eindruck, der dem eines Affen sehr wohl gleichkam. Julius stand auf und setzte langsam einen Fuß nach dem anderen aus der eiskalten, teils verrosteten Kiste. An seinem so gut wie nacktem Körper hingen nasse Fetzen von schwarzen Kleidungsresten, die in besseren Zeiten seine Kampfkleidung gewesen war. Der letzte „Kampf“ – oder wohl eher Hinterhalt - hatte sie arg in Mitleidenschaft gezogen, ebenso die Zeit, die auch ihren Teil dazu beigesteuert hatte.
„Ich hoffe, du hast deinen Schlaf aus.“, erschallte eine in Zynismus getränkte Stimme von hinten, „Es ist eine Zeit lang her als wir uns das letzte Mal trafen, aber ich hoffe, du erkennst mich noch.“
Die Stimme, die ein ängstliches Zittern, aber ebenso Freude beinhaltete, war die der Frau. Sie klang lieblich, jung und vertraut für Julius, der sich aufgeregt und erwartungsvoll zu ihr wandte. Sie, mit einem blutjungen Aussehen, war knapp 1,80 m groß, hatte eine grandiose Figur und schulterlange pechschwarze Haare. Die Gesichtszüge waren schmal und zart, ihre Haut war blass und ihre Augen, von denen ein stechender, aufregender Blick ausging, waren von einem ungewöhnlich hellem Blau erfüllt. Der Hautenge schwarze Overall aus Leder, der in Julius’ Augen befremdlich wirkte, unterstrich die erotischen Vorzüge ihrer Taille und die apfelgroßen, wohlgeformten Brüste, die eher an ein Mädchen als an eine Frau erinnerten. Kein Zweifel: vier Meter vor ihm stand seine Tochter, seine Schülerin, seine Geliebte ... seine Michelle.
Schmerz erfüllte seinen trockenen Hals, als Julius, sonderlich überrascht und im höchsten Maße überwältigt von überschwänglichen Gefühlen über das Wiedersehen mit Michelle, versuchte zu sprechen, „Du...du lebst? Du lebst! Meine Michelle!“ Julius trat mit offenen Armen auf sie zu und nahm sie in diese. Die Umarmung war herzlich und wäre er noch in der Lage gewesen unter natürlichen Umständen zu weinen, er hätte es aus der unbeschreiblichen Freude heraus, dass seine Schülerin noch lebte, getan.
„Ich dachte, sie hätten dich erwischt, wie die anderen. Ich dachte, sie hätten dich verbrannt. Aber du lebst...du lebst!“
Er strich zärtlich durch ihr Haar. Es war nass und der Regen tropfte ihr von den Strähnen ins Gesicht.
„Mir geht es gut, Julius. Aber du bist nicht so einfach davongekommen wie ich, wie es scheint. Ich dachte auch, dass du tot bist. Bis ich vor kurzem erfuhr, was dir wirklich passiert ist.“, sie grub den Kopf tief in seine Schulter, verbarg ihr Gesicht und schmiegte sich eng an ihn. Julius dachte zurück an das, was vor Jahren geschehen und ihm bis zum heutigen Zeitpunkt angetan worden war.
„Damals sah ich nur noch, wie diese Monster dich wegzogen. Dich, Bischof Antonio und seine Garde. Ich betete zu Gott, dass dir nichts angetan wird ... allein der Gedanke daran machte mich fast wahnsinnig.“
„Schh....ruhig, mein Kind.“, beruhigte Julius sie mit sanfter, gelassener Stimme und schloss die Augen, „Sie werden noch früh genug den Preis dafür bezahlen.“
„Sie waren so viele! Als ich im Begriff war zu fliehen, da sah ich wie sie den Bischof, den sie mit vier Mann festhalten mussten, mit Petroleum übergossen, während eine der Wachen bereits als wild umherlaufende lebende Fackel die Vorhänge des Empfangsaals in Brand setzte. Von dir aber war keine Spur zu sehen.“. Ihre Umklammerung wurde stärker, als wolle sie ihn, ihren solange tot geglaubten Erzeuger und Mentor, nie wieder verlieren. Er sollte bei ihr bleiben, so wie er es ihr einst versprochen hatte; damals vor vielen Jahren – für immer. Er strich ihr den nassen Pony aus dem Gesicht und küsste sie zärtlich auf die Stirn. Sie liebte ihn wie einen Vater, doch Julius war mehr für sie: ihr Liebhaber und strenger Meister.
 
Der Weg in die Dunkelheit


I. Der Weg in die Dunkelheit


Nie hatte sie, das kleine naive Mädchen, das vom schönen Leben in der Welt träumte, auch nur eine Chance gehabt, ihr Leben in die richtige Bahn zu lenken. Ihr Vater ließ sie für ihn Geld verdienen, indem er sie in den Straßen Rigas Blumen von minderer Qualität und vom Stadtrand gepflückt verkaufen ließ. Wenn sie zu wenig verdiente oder gar nichts mit nach Hause brachte, so misshandelte er, Jussif, der ewig betrunkene Vater mit einem ungewöhnlichem Hang zu sadistischen Perversionen, sie, indem er ihr entweder die Haare abschnitt, ihr seine Exkremente mit den ‚strengen väterlichen’ Worten ‚Komm her! Du hast heute Scheiße gearbeitet ... Jetzt sollst du auch Scheiße fressen’ auftischte oder sie schlichtweg unkreativ mit seinem Ledergürtel geißelte. Ihre Mutter kannte Ludmilla nicht, denn sie war an den Folgen ihrer Geburt noch im Kindbett an Blutverlust gestorben, was ihr Jussif nie verzieh. Torturen ihres Vaters ertrug sie bis ins zarte Alter von 14 Jahren, als ihr Körper einen Großteil ihrer Weiblichkeit zum Besten gab; denn dann wurde das unbeschreibliche Ausmaß von Jussifs Schulden, die der Arbeitslose über die Jahre gemacht hatte, um Miete, Verpflegung und natürlich Alkohol finanzieren zu können, mit der freundlichen Hilfe von skrupellosen russischen Geldeintreibern namens Dimitri und Wassili endgültig getilgt: ihm selbst wurden die Finger seiner linken Hand abgetrennt, seine wenigen Wertsachen wurden gepfändet und seine Tochter in ein heruntergekommenes Bordell im nordöstlichen Hafenbezirk deportiert. Hier verbrachte sie 384 Tage ihres jungen Lebens mit der Erfüllung von teils krankhaften Wünschen der Seeleute, die ihren innerhalb wochenlanger Plackerei auf See angesammelten Saft auf oder in hilflose, verzweifelte, finanzschwache und erniedrigte Frauen und Mädchen, ja manchmal sogar Knaben und Tiere, zu ergießen suchten. Von menschenwürdiger Behandlung oder gar einer angemessenen Bezahlung für ihre befriedigenden Anstrengungen konnte während ihres Aufenthalts hier aber keineswegs die Rede sein: gelegentlich warmes Essen und ein gelegentlich warmes und trockenes Schlafgemach, das mit acht anderen Unglücklichen geteilt wurde, mussten reichen. Wer rebellierte musste hungern und wer versuchte zu fliehen wurde von seinen Leidensgenossen, die für die Flucht der armen Kreatur von den Bordellschlägern extremst schickaniert wurden, fast oder gar zu Tode geschlagen.
Doch dann kam er. Als Ludmilla ihn das erste Mal sah, war sie hin- und weggerissen. Ihre Augen wanderten über seinen strammen, durchtrainierten Köper, wie ihn normalerweise nur Hafenarbeiter oder hart arbeitende Männer besaßen. Doch dieser war eingehüllt in die teuersten Kleider ganz im Stil des achtzehnten Jahrhunderts, wie sie eigentlich nur an Adelshöfen oder höheren Gesellschaftsschichten in Frankreich, Preußen oder Russland üblich waren: einem dunkelblauem Frack mit samtiger roter Umrandung, einer schwarzen Kniehose mit Bund, weiße Strümpfe, unbefleckt vom Gossenschmutz und dreckigem Regenwasser, ein mit kunstvollen Rüschen besetztes schneeweißes Hemd, das von einer glänzenden schwarzen Weste überlagert wurde, und Lederschuhe, die mit auf Hochglanz polierten Schnallen aus Silber jede Person im Umkreis im höchsten Maße in die Abgründe des Neides forcierte. Sein kastanien-braunes Haar war schulterlang, an den Seiten zu sich aufwärts rollenden Locken geformt und im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sein Gesicht war das eines knapp 30 jährigen Mannes: weder geprägt von weichen, zarten Zügen eines Jünglings, noch von harten, groben Zügen eines Alternden. Es schien zwar jung und dennoch von älterer Weisheit geprägt zu sein. Doch schien er gerade erst mit einem Schiff im Hafen eingelaufen zu sein, denn sein Aussehen spiegelte eine sonderliche Blässe wider, die ihn vermutlich als Seekrank einstufen ließ.
Als der Mann auf Ludmilla deutete und einige Beutel Gold auf die Theke des fetten, übel riechenden Bordellbesitzers Nico warf, war ihr klar, dass er sie für die Nacht auserwählt hatte. Doch warum lehnte Nico mit heftigem Kopfschütteln ab? Warum redete er wild gestikulierend und ablehnend mit dem Reichen, denn das hätte er normal nie ... nie getan?
Der Edelmann warf noch einen Beutel auf die Theke und wiederholte seine Forderung untersetzt mit einem scharfen, eindringlichen Blick. Schlussendlich willigte Nico langsam, doch zufrieden ein. Danach ging der Mann auf Ludmilla, die nicht wusste, wie ihr geschah, zu, nahm sie bei der Hand und verließ mit ihr den Ort.
Er hatte das Mädchen freigekauft.
Während ihrer Zeit bei eben diesem Mann namens Julius, einem Freiherrn, der sie mit sich ins ostpreußische Königsberg, nahe dem Frischem Haff und der Danziger Bucht, genommen hatte, blühte wie durch Gottes Hand das kleine verstörte, gedemütigte und gequälte Kind, zu dem sich Ludmilla während ihrer von Schicksalsschlägen geprägten Vergangenheit entwickelt hatte, zu einem lebenslustigen, wissbegierigen und liebenden Spross auf. Er gab ihr ein komfortables Zuhause, ein prachtvolles Zimmer in seinem Herrenhaus mit großem Gelände am Rand der Stadt, ließ sie unterrichten in Sachen Linguistik, Mathematik und Sachkunde. Er trainierte sie persönlich im Umgang mit Knüppeln, scharfen Klingen und gelegentlich auch Schusswaffen. Aber das, was er ihr am allermeisten bot, war nicht finanzieller oder bildungsmäßiger Natur. Es waren unersetzbare Dinge, die ihr nie zuvor entgegengebracht worden waren, nämlich Fürsorge, Zuneigung, Geborgenheit und Liebe.
Ludmilla sah ihren Herrn ausschließlich nachts, da er tagsüber, so sagten seine Diener ihr, über seinen Großgrund zu walten und untertänigen Pflichten im Dienste König Friedrich Wilhelms II. zu erfüllen hatte. Doch sah sie ihn auch niemals morgens das Anwesen verlassen oder abends heimkehren. Ebenso sah sie ihn an einigen Tagen, wenn er für Stunden das Haus verließ und in die Stadt ritt, nur nachts. Als ihre Unverständnis und ihre Neugier eines guten Tages, nachdem sie das zwanzigste Lebensjahr erreicht hatte, den Siedepunkt erreicht hatten, observierte sie Julius so gut und heimlich sie konnte.
Und sie erschrak als sie irgendwann mitansehen musste, dass ihr Herr, dem sie aus tiefster Seele Respekt zollte und deshalb zwanglos gehorchte, in einem Sarg schlief, der in einem fensterlosen und spärlich dekoriertem Kellerraum auf einem erhöhten Podest lag. Der Raum war für gewöhnlich verriegelt und nur Julius und sein treuer Diener Franz hatten einen Schlüssel für die massive, eisenbeschlagene Eichentür. Den Schlüssel von Franz konnte Ludmilla aber entwenden, als dieser für kurze Zeit unaufmerksam gewesen war und seinen Schlüsselbund, während er draußen die Gärtner einwies, in der Küche liegengelassen hatte.
Sie stand nun in Mitten des Zimmers, verwirrt und ohne einen logischen Grund für Julius sonderbares Benehmen. Die kommende Nacht stellte sie daraufhin Julius zur Rede, welcher wiederum überrascht und entsetzt auf die Beschattung ihrerseits reagierte. In die Ecke gedrängt versuchte Julius sein Verhalten mit relativ fadenscheinigen Gründen zu erklären und Ludmilla somit vorerst zufrieden zustellen; doch erfolglos. Die junge Frau, die sie jetzt war, war nicht mehr naiv und dumm schon gar nicht. Sie hatte schon lange Zeit vorher, schon als sie noch 17 war, in der Hausbibliothek Studien über okkultistische Nachforschungen und osteuropäischen Aberglauben betrieben. Die Erkenntnisse, die sie mit Hilfe des Zedler Lexikons oder einiger Schriften von Görres, Uperczynsky und Wannerheim erlangte, machten sie hinsichtlich Julius’ Verhalten nur noch stutziger, da sie kleine, teils winzige Parallelen auszumachen vermochte, wie beispielsweise seine ausschließliche Nachtaktivität oder die Tatsache, dass er zu keiner Zeit mit ihr dinierte.
Sie wollte es wissen, wollte Gewissheit darüber, ob ihr Herr das war, was sie glaubte, das er war.
„Herr, ich war immer euer treuer Schützling. Ihr habt mir in meiner dunkelsten Stunde bei Seite gestanden und mich aus dem Höllensumpf gezogen und bedingungslos bei Euch aufgenommen. Ihr gabt mir Essen, eine Zuflucht, euer Wissen, eure Geborgenheit. Habe ich Euch je enttäuscht? War ich je undankbar Euch gegenüber? Habe ich Euch je belogen oder euer Vertrauen missbraucht oder Euch geschadet?“
Julius Blick, der zu Boden gerichtet war, fiel langsam auf Ludmilla und mit vibrierender, von Enttäuschung untersetzter Stimme sprach er: „Du, mein Kind, hast mir in sofern geschadet, dass du meine Privatsphäre angetastet hast. Ja, du hast mich in der Hinsicht wahrlich enttäuscht.“
Ludmilla hob ihren überlangen Rock an, ging auf ihren Herrn zu, warf sich demütig vor ihm auf die Knie und rieb ihre rosige Wange gegen seinen von ihr ergriffenen kalten Handrücken.
„Aber...Herr, ich mache mir Sorgen um Euch! Nie in all den Jahren habe ich Euch essen sehen oder Euch bei Tage gesehen! Manche Nächte rittet Ihr fort in die Stadt und kehrtet erst früh am Morgen heim! Einmal, nachdem Ihr gerade aus Königsberg heimkehrtet, da sah ich winzige Tröpfchen Blut auf Eurem so weißem Hemd und ich dachte erst, Ihr hättet Euch verletzt, doch ich schwieg. Oh Herr, bitte vertraut mir Euer Geheimnis an. Ihr könnt gewiss sein, dass meine Lippen versiegelt bleiben werden.“
„Es gibt kein Geheimnis. Ich habe viel zu tun tagsüber oder meinst du etwa, dass ich diesen Lebensstandart im Schlaf erhalten könnte! Wer meinst du verwaltet mein Land? Glaubst du etwa, die Bauern würden jemandem Respekt und Gehorsam schulden, den sie nie sehen? Der sie nicht von seiner Macht überzeugt? Der über sie nicht mit eiserner Hand gemäß dem Gesetze der Krone verfügt? Mach, dass du aus meinem Blickfeld verschwindest und beschäftige dich lieber mit sinnvolleren Dingen.“, entgegnete er, zog seine Hand ruckartig, gar harsch weg und bewegte sich zielstrebig mit wehendem blauen Samtmantel zur Tür.
„Ihr seid ein Vampir...............hab ich recht?“
Julius hielt augenblicklich inne und das monotone Geräusch seiner Schritte, das taktvoll von den kunstvoll geschnitzten dunklen Holzwänden quer durch das Zimmer zurückhallte, stellte sich ein. Die Sekunden des Schweigens, die folgten, und die starre Haltung Julius bestärkten Ludmilla in ihrer Vermutung. Doch es kam keinerlei Reaktion. Julius ging weiter, ließ das Mädchen hinter sich und verließ den Raum ohne ein Wort.


Zwei Wochen lagen nun inzwischen nach diesem Vorfall zurück ohne, dass Julius sich blicken ließ. Die Tatsache, dass sie Julius törichter Weise bedrängt und seinen Unmut auf sich gezogen hatte, so dass er als Folge daraus den Kontakt zu ihr, die sie ihn liebte, egal wer oder was er wäre, abbrach, erfüllte Ludmilla mit einem intensiven Gefühl des Unwohlseins, das sie nicht zur Ruhe kommen ließ. Am folgendem Dezemberabend, kurz nachdem die Sonne untergegangen war, erschien ihr Herr plötzlich und unerwartet in ihrem Zimmer. Sein Gesicht war ausdruckslos und kühl und sein Blick, der von seinen blauen Augen ausging, schien sie regelrecht zu durchbohren. Schließlich ertönte seine Stimme: „Komm! Die Gefahr, der ich mich heute aussetze, ist wahrlich groß. Doch will ich dich nicht länger im Dunkeln darüber lassen, wer die Person ist, die du als deinen Benefactor kennst. Heute Abend soll deine Neugier befriedigt werden und du sollst letztendlich entscheiden, ob du mich, nachdem du die Wahrheit kennst, auf ewig verlässt oder an meiner Seite dein Leben verbringen willst – bis zu deinem Tode.“
Ludmilla, vollkommen überrascht und erleichtert von dem Sinneswandel ihres Liebsten, folgte ihm aufs Wort. Sie gingen hinunter zu den Ställen, sattelten zwei Pferde und ritten gen Stadt.
Das prachtvolle Königsberg war bekannt für seine Philosophen, Denker, Universitäten und Herrscher, die dort seit der Zeit des Deutschen Ordens residierten. Eine im weitesten Sinne durchaus angesehener Ort Europas. Doch die direkte Konfrontation mit der Stadt brachte auch andere Bilder zum Vorschein: die dunkle Kuppel der Universität dehnte sich breit und hoch in den Himmel hinaus, so dass das helle Licht des abnehmenden Mondes durch ihr verdeckt einen gewaltigen Schatten über den großen grauen Platz, dessen Zentrum eine knapp acht Meter hohe und von Grünspan überzogene Bronzefigur des Begründers war, warf. Dieser Anblick, der zugleich Furcht einflößte, machte deutlich, wie sehr sich die Zeit gewandelt hatte. Die anmutenden Kathedralen der christlichen Kirche, die einst allen Prunk, alle Größe und Detailtreue aufwiesen, finster wirkend durch Statuen von kämpfenden Seraphinen und Ehrfurcht gebietend zum Himmel ragten, alles im Umkreis winzig und klein erschienen ließen, und somit die Sinnbilder für die ungeheure Macht der Kirche verkörperten, wurden ersetzt durch die Universitäten und Akademien, die den Menschen Weisheit vermittelten, ihn aufklärten und ihn befähigten Kenntnisse im Bereich der Wissenschaften zu erlangen. Die Aufklärung, die der Grund dafür war, appellierte an des Menschen Verstand und Vernunft. Gebäude wie die gigantische und kunstvoll verzierte Königsberger Universität mit ihren zahlreichen Spitzbögen und Rippengewölben, die an das Skelett einer riesigen mystischen Kreatur erinnerten, den schlanken, hoch aufstrebenden Maßwerken, sowie den prächtigen Netz-und Sterngewölben symbolisierten dies.
Dann wurde die Szenerie der Stadt wieder anders. Sie verließen das Zentrum und drangen ins Rotlichtviertel vor, in dem Messerstecherei, Vergewaltigung, Mord oder andere widerwärtige Kriminalitäten an der Tagesordnung standen. Die kalte Luft war durchzogen von einem schweren scharfen Geruch bestehend aus Rauch, vergammelten Müll, Fäkalien und Salz; ein Geruch, den die Zwanzigjährige nur zu gut in Erinnerung hatte. Die Straßen hier waren gefüllt von Huren, Freiern, Betrunkenen, Bettlern und sonstigem moralischen Abschaum der Gesellschaft, der sich teilweise lauthals mit primitivsten Gossenwörtern beschimpfte und die Straße mit ungeheurem Lärm erfüllte. Julius und Ludmilla entschieden, nachdem sie die Pferde an einer bordellzugehörigen Pferdekoppel angebunden hatten, von jetzt an per pedes weiter ihren Weg zu gehen. Wo dieser jedoch hinführen sollte, dass wusste sie nicht. Schließlich bogen beide in eine kleine unscheinbare Seitengasse ab, dessen Grund mit durchnässtem, vor sich hinrottendem Abfall, von dem sich dutzende von Ratten nährten, überzogen war. Ein extremes Gefühl des Unwohlseins und des Ekels durchzog Ludmilla, die ratlos vor sich hin überlegte, warum Julius sie an diesen abscheulichen Ort geführt hatte. Plötzlich hielt Julius inne. Ihn schien irgendetwas zu beunruhigen; hatte er jemanden gesehen? Oder gehört? Mit einer raschen Geste teilte er ihr ohne ein Wort zu sagen mit, dass sie sich still verhalten solle. Sie am rechten Handgelenk greifend zog er Ludmilla mit sich unter eine kleine Treppe, die seitlich zu einem Hintereingang eines hier ansässigen Etablisments führte. Beide waren nun komplett in ihrem finsterem Schatten verborgen.
Nach einigen Sekunden hörte auch sie immer deutlicher werdende Geräusche: Geschrei von Männern – dem Lärm zur Folge mussten es drei sein – und das Wimmern einer Frau. Dann sah sie die annahenden Personen. Eine in einem hellen, rüschenverziertem Kleid geschnürte junge Rothaarige - offensichtlich keine der hier arbeitenden Prostituierten, denn ihr Aussehen und ihre Kleidung vermittelten einen wohlhabenden Eindruck – flüchtete panisch vor drei raubeinigen, zerlumpten Männern; zwei von ihnen mit Messern, der andere mit einem dicken Knüppel bewaffnet.
„Bleib stehn', mein Täublein! Zier dich nicht!“ und „Sei nicht so forsch! Gibt den Armen auch mal was ab!“ drang schallend und mit Lachen untersetzt durch die kleine, doch lange Gasse, die hier abseits des allgemeinen öffentlichen Tumultes war. Einer von ihnen, ein riesiger Blonder mit bulligem Gesicht, holte die junge Frau schließlich ein, sprang ihr von hinten in den Rücken und riss sie zu Boden, direkt in eine Pfütze, so dass ihr vorher so helles, weißes Kleid nun mit schwarz-braunem Dreckwasser besprenkelt war. Die anderen beiden kamen prompt nach und warfen sich ebenfalls auf die am Boden liegende und sich heftig wehrende Frau.
„Dann zeig doch mal, wo du deine Münzen versteckt hältst!“ , brüllte der kleine alte Glatzkopf, der, anstatt Schuhe, mit Schnüren fixierte Stofffetzen um die Füße trug, und griff unter das Kleid seines Opfers, „Vielleicht hier, in deiner reichen kleinen .... Spalte!“
„Verdammt, lass das Karl!“, griff der Dritte, ein schlaksiger Jüngling von mittlerer Größe und mit für sein Alter bereits relativ vielen Zahnlücken, auf einmal ein, „Schnapp dir einfach das Geld und lass uns verschwinden! Nutten können wir doch überall haben!“
„Ja, aber nicht umsonst. Und jetzt verschwinde, du Scheiß Bastart, bevor ich dir die Schnauze eintrümmere!“
Aus dem Schatten heraus beobachteten Ludmilla und ihr Begleiter das Spektakel vollkommen unbemerkt. Schock und Angst durchfuhr ihre Glieder; sie wollte schreien oder fortlaufen, denn das, was sie sah, erweckte in ihr extremes Mitleid, ebenso Trauer, unbeschreibliche Wut und Machtlosigkeit gegenüber drei bewaffneten Halunken. Aber Julius hielt sie fest in seiner rechten Hand. Mit der Linken hielt er ihr den Mund zu, damit sie keinen Mucks von sich geben konnte.
Der große Blonde hielt sich zurück, er sagte nichts, doch hielt er die Frau, die bitterlich heulte und flehte, als sie merkte, dass ihre Lage aussichtslos war, fest in seinem Griff. Der Glatzkopf - Karl, wie er genannt wurde-, sich die dünnen Lippen leckend, begann nun, nachdem er den Unterrock der Rothaarigen mit seinem Messer geöffnet hatte, ihre [...Zensur...] mit seinen angeleckten, widerlichen Fingern genussvoll zu streicheln.
Julius’ Flüstern zischte in diesem Moment fragend in Ludmillas Ohr: „Sag mir, mein Kind, wen willst du zuerst sterben sehen? Den Riesen, den zahnlosen Spunt oder den krankhaften Vergewaltiger?“
Ludmilla wunderte sich, als sie diese Worte aus dem Munde ihres Herren hörte. So kannte sie ihn nicht; sie hätte ihn niemals so eingeschätzt, als dass er, die liebevolle und gutherzige Vaterfigur, eine so kaltblütige Frage stellen würde. Und wer war er wirklich, dass er etwas gegen drei bewaffnete Männer auf einmal auszurichten vermochte?
„Vielleicht willst du auch zusehen, wie sie das Mädel zu Tode foltern? Doch ich denke, ich überlasse dir letztendlich die Entscheidung. Ich werde tun, was du willst. Wähle!“
Die gelassene Haltung, ja fast schon Entspannung, die von Julius ausging, entfremdete ihn in ihren Augen nur noch mehr. Er hatte sie wirklich vor die Wahl gestellt und sie sollte somit über Tod oder Leben eines Menschen entscheiden. Doch diese Bestien von Männern, die feige und sabbernd die hilflose Frau bedrängten, sie nun schlugen und traten, damit sie still sei, sie erniedrigten und missbrauchten, hatten das Leben nicht verdient – nicht einmal der Schlaksige, denn obwohl er gegen die Vergewaltigung seitens der anderen war, so stellte er sich nicht gegen sie, sondern billigte nun das Schauspiel, das sich ihm bot. In ihr loderten Zorn und Hass immer stärker auf; auch nicht zuletzt, weil sie der Anblick an ihre Erniedrigungen und Qualen durch ihren Vater oder der Bordellschläger und Freier erinnerte. Sie wollte Rache für ihre persönliche Hölle auf Erden und übertrug ihren Hass in diesem Moment auf die Peiniger der Frau, die sie an sich selbst erinnerte.
„Der Blonde, der sie blutig schlägt....Nein...der mit der Glatze....oder halt! Nimm den Jungen, der sich an dem Anblick weidet!“, erklang schließlich aus ihrem Mund, „TÖTET ALLE!!!“.
Der letzte Satz brach schrill und lauthals aufgrund ihrer immensen emotionalen Erregung aus ihr heraus und war in aller Deutlichkeit im ganzen Umkreis zu hören. Die drei Männer, zu Tode erschrocken, drehten sich augenblicklich und kampfbereit in die Richtung des Schreis und obwohl niemand zu sehen war, ließen ihre Augen nicht von der Treppe, zehn Meter von ihnen entfernt, ab.
Julius nahm lächelnd die Hand von Ludmillas Mund und ließ sie mit dem Ausstoß eines dunklen, unheimlich animalischen Knurrens los. Sein Werk konnte beginnen.



Über Entscheidungen und Erkenntnisse

Langsam erschienen die Konturen einer knapp 1,86m großen Kreatur aus dem finsterem Schwarz, dass unter der Treppe ansässig war. Nebelschwaden, die die bereits durch die Finsternis schwer zu erkennende Person noch zunehmend unidentifizierbar machten, glitten träge und geisterhaft durch die kleine doch lange Gasse. Die Person näherte sich Schritt für Schritt langsam, doch unaufhaltsam den drei Männern, die paralysiert und mit heftig schlagendem Herzen auf der Stelle ausharrten. Sie hatten Angst, Julius konnte es förmlich riechen, jedoch machte keiner auch nur die geringsten Anstalten, die Flucht zu ergreifen. Stattdessen stürzte sich der riesige wortkarge Blonde, der sich relativ schnell wieder von dem plötzlichen Schreck erholt hatte, mit gezogener Klinge in die Dunkelheit und in Richtung der Person, dessen Umrisse er grob erkennen konnte. Welche Art von Widerstand sollte ihm wohl entgegengebracht werden - zumindest von der Frau, von der der Schrei ausgegangen war und die sich jetzt, so dachte er, auf ihn zubewegte.
Der Riese tauchte ein in die Schwärze und ....... war verschwunden.
Keine Entgegnung. Keine Kampflaute. Kein Schrei der vermeintlichen Frau. Nichts, bis auf ein unnatürlich knackendes, brechendes Geräusch.
Plötzlich war es so ruhig, dass man die Laute, ja teils Gespräche, die von der Straße ausgingen, sehr wohl vernehmen konnte.
„Eckerhard! ........... He da, Eckerhard! Was ist? Hat dir das freche Lumpsweib die Sprache verschlagen oder was?“, drang es zittrig und unruhig aus der Kehle des Glatzkopfs, der bereits über und über mit Blut beschmiert war, das ihm unangenehmer Weise entgegengespritzt war, während er der nun bewusstlosen Rothaarigen immer und immer wieder Fausthiebe ins Gesicht verpasst hatte, um ihr das Maul zu stopfen. Sekunden vergingen, doch der Blonde gab kein Zeichen von sich.
„Hör auf, Mann! Das nicht witzig!“, rief der Bursche.
„Komm jetzt Eckerhard, lass den Mist. Bring die Schlampe doch einfach her, damit wir auch ...“
Karl hielt mitten im Satz plötzlich inne. Irgendetwas war ihm aus der rabenschwarzen Finsternis direkt an den Kopf geschleudert worden und traf ihn mitten ins Gesicht. Irritiert und noch überrascht von dem Vorfall, sah er langsam zu Boden, um zu sehen, was ihn getroffen hatte. Er bückte sich und suchte mit seinen Händen vorsichtig das Pflaster ab; selbst so kurz vor seiner Nase konnte er auf Grund des Lichtmangels nicht einmal sehen, was vor ihm lag. Dann ergriff er plötzlich etwas. Es war feucht, sogar warm; und glitschig alle Mal. Karl ging ein paar Schritte zurück in Richtung Licht und was er dort, in seinen eigenen Händen, sah, war ein Stück frischen Fleisches. Sein Blick wurde starr und seine Gesichtszüge verkrampften sich; die Angst manifestierte sich zunehmender.
„Eckerhard ......?“
Stille.
„Sag doch was!“
Nichts.
„Was ist das?“, fragte der Zahnlose ungeduldig.
Doch Karl nahm ihn kaum wahr. Er ließ entsetzt den blutigen Klumpen fallen, umklammerte fest sein Messer und schritt bedächtig auf die Treppe zu. Ein lähmendes Gefühl durchzog mit jedem Schritt, den er tat, mehr seine Beine, ein quälendes Ziehen fand einen Weg in seinen Bauch. Kalter Schweiß rann ihm unaufhörlich aus den Poren und sein Herz raste mit einer Aggressivität und Schnelligkeit, so dass jeder einzelne Schlag als ein penetrantes Hämmern in seinem Kopf widerhallte. Kurze Zeit hielt er inne. Die Angst in ihm basierend auf bedrückender Ungewissheit hatte ihn nun fest im Griff. Karl atmete tief durch, er befürchtete das Schlimmste und die Spannung in seinen Gliedern brachte ihn fast zum Brechen.
„So...hör mal! Ich zähl jetzt bis drei. Wenn du dich dann noch nicht gezeigt hast, prügeln Hannes und ich dir deine Galle raus! Wer auch immer du bist!“
Immer noch nichts.
„Eins!....................Zwei!................................................Drei! Los Hannes!“
Karl stürzte auf die Finsternis bei der Treppe zu und wurde von den Beinen gerissen, als 95 Kilogramm, die ihm mit voller Wucht entgegengeworfen wurden, gnadenlos mit ihm kollidierten, so dass er zu Boden fiel, seine Waffe verlor und mit dem Hinterkopf hart aufschlug. Sterne flogen vor seinen Augen, doch so benebelt er auch war, er versuchte aufzustehen und herauszufinden was es war. Geschockt und wie paralysiert blickte Karl auf das Ding an seiner Seite. Was er dort sah, ließ ihm beinahe das Blut in den Ader gefrieren. Dieses leblose Ding war bis vor wenigen Minuten noch sein Kamerad Eckerhard gewesen. Jetzt allerdings glich es vielmehr der Beute eines wilden Tieres. Die Kehle des Mannes schien herausgerissen worden zu sein, so dass es wirkte, als präsentierte der Leichnam jedermann geradewegs seine Luftröhre. Wo einst seine linke, muskulöse Brust gewesen war, klaffte nun ein blutiges Loch, aus dem deformiertes Gewebe und gebrochene, zersplitterte Rippen herausragten.

Dann erschien undeutlich eine Silhouette im Nebel. Die Silhouette eines Mannes. Und dieser Mann hob einen Arm empor und es schien als blicke er zu ihm oder vielmehr etwas, das er in der Hand hielt, auf. Das einzige Geräusch, das zu vernehmen war, war ein Zufrieden klingendes, offenes Lachen, das merkwürdiger Weise kontinuierlich von einer Art Schluckgeräusch unterbrochen wurde. Und als das silberne Mondlicht sich seinen Weg durch die sich verziehende Wolkendecke am Horizont freikämpfte, die schwärzeste Finsternis in der Gasse verdrängte und das fremde Wesen geradewegs beschien und präsentierte, da verlor der skrupellose Vergewaltiger fast den Verstand: Vor ihm stand ein Mann, dessen prachtvolle Kleidung, sein langes, gebundenes und glänzend gepflegtes Haar, sowie das leuchtend schimmernde Licht des abnehmenden Mondes ihm einen göttlich anmutenden Status zu Teil werden ließen. In seiner rechten Hand hielt das grausame Zerrbild eines Heiligen ein Herz, dessen Blut beider Kammern es kraftvoll, doch langsam herausquetschte, um es daraufhin genussvoll in seinen weit aufgerissenem Mund tröpfeln zu lassen.
Dies war zuviel für Karl. Voller Entsetzen und Abscheu wandte er sich schockiert ab und erbrach unfreiwilliger Weise auf den Leichnam seines Gefährten, dessen schmerzverzogenes, blasses Gesicht ihn mit kalten Augen anstarrte. Panisch kroch der immer noch auf dem Boden liegende Glatzkopf rücklings fort – den Blick unentwegt auf die Kreatur gerichtet, die das nun blutleere Organ achtlos auf einen Müllhaufen mitten im Rattengetümmel warf.
„Seht! Er flieht, Herr! Er versucht zu fliehen!“, schrie auf einem Mal eine Frauenstimme. Es war Ludmilla, die hastig auf den abseitsstehenden Jüngling deutete, der, nachdem er sich des abscheulichen Schicksals seines blonden Kameradens im vollem Ausmaß bewusst geworden war, hysterisch und angsterfüllt um sein Leben lief. Julius lachte leise in sich hinein, ging ungewöhnlich schnell auf dem am Boden liegenden Karl zu und beugte sich herab. Diesem blieb voller Furcht beinahe das Herz stehen; verzweifelt versuchte er aufzustehen, wegzurennen oder einfach nur wegzukriechen! Nur noch ein einziger Gedanke dominierte sein Handeln: Flucht um jeden Preis! Doch zu spät – Julius hatte sein linkes Bein fest im Griff. Den rechten Fuß platzierte der Vampir auf Karls Oberschenkel, seine Hände legte er um dessen Wade und Schienbein; dann riss Julius den Unterschenkel mit unmenschlicher Kraft empor, entgegen der natürlichen Richtung des Kniegelenks, welches mit einem unbeschreiblichen und magenverdrehendem Knacken zersplitterte, nachdem die vollends überdehnten Sehnen entlang der Kniekehle gerissen waren. Qualvolle, pochend dumpfe Schmerzen durchzogen den Körper des Vergewaltigers, der sich schreiend, schmerzverzehrt, gekrümmt und bitterlich weinend auf dem Pflaster hin und her rollte. Sein Unterschenkel, nur noch durch fleischiges Gewebe mit dem restlichen Körper verbunden, baumelte dabei grotesk in alle Richtungen.
Dann verschwand Julius wie vom Erdboden verschluckt, während Ludmilla, die, durch einen scharfen Luftzug aufmerksam gemacht, etwas Verschwommenes blitzschnell an sich vorbeizischen sah, nun mutterseelenallein mit der verletzten und wimmernden Kreatur und der bewusstlos geschlagenen Rothaarigen in der Gasse verweilte. Die Zwanzigjährige zitterte. Sie wusste, dass es auf dieses Ereignis hinausgelaufen wäre; doch diese direkte Konfrontation mit dem Tod verängstigte sie dennoch; und zwar massiv. Minuten vergangen, doch Julius ließ sich nicht blicken. Die junge Frau wagte sich schlussendlich aus ihrem Versteck und ging vorsichtig und zögerlich auf die am Boden liegende Vergewaltigte zu, deren blutverschmiertes und angeschwollenes Gesicht die Torturen widerspiegelte, die sie durchgemacht hatte. Aus der tiefen Platzwunde an der Stirn floss unaufhörlich Blut, welches in ihre roten Locken lief und diese verkrusteten. Behutsam bedeckte Ludmilla den gewaltsam entblößten, nackten Leib der jungen Frau, schniefte und wurde sich der plötzlich auf ihrer rechten Wange fließenden Träne bewusst. Sie versuchte sich in ihre Lage zu versetzen, den Vorfall nicht aus der Sicht eines Beobachters, sondern aus der Sicht des Opfers Revue geschehen zu lassen, um sich dessen ungeheure Ängste und Qualen zu verdeutlichen. Eine Reihe von Fragen schossen ihr unweigerlich durch den Kopf: Wie grausam muss es diesem Geschöpf erschienen sein? Wie steht es um ihre Familie, die Anteil an dem Schmerz ihrer Vergewaltigung nimmt? Wird die seelische Wunde, die ihr durch diese Erniedrigung zugefügt wurde, jemals heilen können? Wenn ja, so wird sie dennoch immer durch die köperlichen Narben und Folgen gezeichnet sein.
Ludmilla begann von Trauer und Mitleid geplagt zu weinen. Zu sehr erinnerte die sexuelle und psychische Demütigung der Rothaarigen sie an ihre Vergangenheit im Hafenviertel Rigas, wo sie als Lustmädel vor sich hin vegetierte. Sie erschrak, als ihr eine Hand von hinten auf die Schulter gelegt wurde. Doch war die Berührung sanft und vertraut. Es war Julius.
„Konnte er Euch entkommen?“, fragte sie bezüglich des Zahnlosen.
„Ja.“
Ihr Blick wandte sich enttäuscht ihrem Geliebten zu, der die Fassungslosigkeit seines Schützlings durchaus wahrnahm.
„Dann wird er nicht büßen für das, was er diesem unglücklichem Geschöpf angetan hat?“, die Stimme des Mädchens zitterte und ihre Stimmbänder verkrampften sich voll Trauer, Entsetzen und grenzenloser Wut, „Er lebt weiter, als sei nichts gewesen, während sie ein Leben lang von Narben und Alpträumen gequält wird?“
„Nein.“
Der Blick der auf dem Boden kniehenden Zwangzigjährigen spiegelte schlagartig ihre Überraschung und ihr Unverständnis wider.
„Aber...ich verstehe nicht. Wie...“
„Als ich ihn verfolgte, rannte er panisch um sein Leben – zu Recht. Doch er machte den Fehler, nicht auf seine Umgebung zu achten. Kurz: er kämpfte sich lauthals seinen Weg durch die Menschenmenge, die ihn verdutzt ansah, stolperte auf die offene Straße und wurde ‚unglücklicher’ Weise von einer äußerst eilig passierenden Kutsche mit zwei kräftigen Rössern im Geschirr erfasst – nein, zu Tode getrampelt...zerquetscht. Äußerst bedauerlich.“, entgegnete Julius sarkastisch lächelnd und leckte sich mit der Zungenspitze über die obere Zahnreihe. Doch sein Blick richtete sich nicht auf Ludmilla, sondern wanderte in Richtung des Krüppelglatzkopfs, der verzweifelt versucht hatte, aus der Gasse zu kriechen, um irgendwie in der Menschenmenge des Rotlichtviertels untertauchen zu können. Schleichend quälte dieser sich Zentimeter für Zentimeter voran, seine deformierte Extremität hinter sich herziehend.
„Wir sind noch nicht fertig. Warte hier!“, befahl der Vampir seinem Schützling, bevor er sich elegant und in aller Ruhe dem um sein Leben flehenden Verletzten näherte, ihm im Genick packte und nach Ludmilla schleifte.
Als Karl merkte, dass er sich der unmenschlichen Kraft seines Kontrahenten nicht erwehren konnte und all seine Bemühungen sich zu befreien von Anfang an zum Scheitern verurteilt waren, griff er unauffällig in die Brusttasche seiner verkommenen Jacke, zückte eine beidseitig geschärfte Klinge und rammte diese mit all seiner Kraft in den Bauch Julius. Mit unglaublicher Hast, getrieben von Verzweiflung und Panik, rammte Karl immer und immer wieder das Metall in den Körper der Kreatur. Doch diese machte keinerlei Anstalten zusammenzubrechen, obwohl durch das weiße Rüschenhemd bereits zahlreiche Blutoasen hervorquollen, die den feinen Stoff in tiefstem Rot tränkten.
„Stirb doch endlich! Jaaaaaaa......Stirb, du verdammte Kreatur! Na los!“, brüllte der apathisch Reagierende, dessen völlige Unterlegenheit ihm, dem gewahr wurde, dass dem Vampir keine der ihm zugefügten Stichwunden nur das Geringste ausmachte, von Sekunde zu Sekunde deutlicher wurde. Ludmilla schrie vor Entsetzen, kauerte sich am Boden ruckartig zusammen und starrte schockiert mit weit aufgerissenen Augen den verletzten Leib ihres Herren an. Nein – er durfte nicht sterben! Nicht ihr Herr, den sie liebte und der die einzige Person war, die ihr noch lieb und teuer war auf Erden. Ihre Gesichtszüge verkrampften sich und Tränen sprudelten über ihre hübschen Wangen. Die Überraschung, die sich ihr nun offenbarte, sollte sie jedoch eines besseren belehren, denn zu ihrer Verwunderung lächelte Julius sie, wie schon vorher, selbstsicher an.
Obwohl Karl sich seiner Ohnmacht gegenüber dem Feind durchaus bewusst geworden war, stach er weiterhin mit unbändiger Wut und Verzweiflung zu, bis plötzlich der Vampir mit kaum wahrnehmbarer Schnelligkeit sein Handgelenk schnappte und Mittels gezieltem Druck auf die Sehnen die Hand Karls zum Öffnen brachte, so dass die blutgetränkte Klinge zu seinen Füßen fiel.
Dann griff er mit beiden Händen nach dem Kopf des Glatzkopfs und zog ihn näher an sein Gesicht. Nun verlor der buchstäblich am Boden zerstörte, weinende Karl gänzlich seinen Mut, warf den letzten Rest seiner Würde fort und begann mit hemmungslosem, weibischem Gewimmer zu betteln.
„Bitte! Bitte, nicht! Ich hab doch nichts gemacht. Sie wird sich doch wieder erholen. Ich hätte sie doch nicht getötet! Ich hätte sie auch nicht da liegen lassen. Ehrlich! Außerdem.....außerdem...hatte sie mich vorher bestohlen! Ja...ja genau!“
Keine Reaktion Seitens Julius. Der bedrohte Glatzkopf, dem kalte Schweißperlen aus nahezu allen Poren drangen, wurde sich dieser Tatsache durchaus bewusst, schluckte kurz, um Zeit zu schinden und seine Gedanken zu sammeln, dann fuhr er kleinlaut fort:
„Ich flehe dich an, lass mich gewähren! So hör doch! Ich...ich bin im Grunde kein schlechter Mensch! Ich verrate dich auch nicht...ganz sicher! Willst du Geld? Ich hab’ immer ein paar...........Was? Nein...bitte nicht.............NEIN!“
Doch das was der Untote nun unternahm, ließ dem Vergewaltiger beinahe den Verstand verlieren: Julius nun glasige Augen, die die Pupillen des Opfers eindringlich fixierten, begannen allmälig bläulich emporlodernd zu schimmern und ein bedrohliches, infernalisches Leuchten auszustrahlen; seine Lippen zogen sich so weit zurück das der Blick auf die Zahnreihen und somit auf die spitzen und überlangen oberen Eckzähne, die denen eines wilden Tieres glichen, frei wurde; die Gesichtszüge, die sich grotesk veränderten, schienen nur um so bedrohlicher, als das silberne Mondlicht einen Teil der rechten Wange und der Stirn anmutig beschien. Zehn Zentimeter vor Karls Gesicht war eine unmenschliche, teuflische Fratze, dessen eindringlicher Blick seinen Geist nahezu in den Wahnsinn trieb. Er schrie und wehrte sich, doch ohne Erfolg. Im darauf folgendem Moment näherte sich die Fratze und presste hastig ihren Mund auf den des Verzweifelten.
Der Anblick, der sich Ludmilla, die geschockt Abstand nahm, doch alles mitansah, bot, war abnorm, widerlich und anstößig. Die beiden Personen vor ihr verharrten in einer Position, die aussah, als würde der eine dem anderen einen Zungenkuss geben. Doch strahlte dieser Kuss, wenn es denn einer war, keine Liebe oder Zuneigung aus, sondern Schmerz, Angst, Verzweiflung und Ohnmacht. Plötzlich schoss für einen unbedeutenden Augenblick eine Blutfontäne aus dem Spalt, der zwischen den Lippen von beiden kurze Zeit klaffte, hervor und ein Rinnsal lief über Karls Wange und Unterkiefer. ‚Was geschieht dort?’ Diese Frage stellte Ludmilla sich zunehmender. Die Schreie des Glatzkopfs wurden dumpfer und drangen kaum noch während des Kusses hervor. Seine Gebärden wurden schneller, unkontrollierter und hektisch - er zitterte. Die Sehnen seines Halses drangen gut sichtbar hervor. Er kniff die Augen zu, seine Mimik verzog sich ins Abnorme und Tränen flossen über sein extrem errötetes Antlitz. Ludmilla war klar, er musste ungeheure Qualen erleiden; solche, die eines jeden Menschen normalerweise unwürdig waren.
Nach einiger Zeit entfernte Julius seine Lippen, die über und über mit Blut benetzt waren, von denen seines freudlosen Opfers. Doch lockerte er keineswegs seinen Griff, sondern Starrte dem Vergewaltiger, der vor Schmerzen beinahe das Bewusstsein verloren hatte, wieder direkt in die Augen, grinste und spie ihm ein Stück Fleisch in das nun aschfahle Gesicht. Daraufhin sprach der Vampir wohlgefällig und mit Epik untersetzter Stimme:
„In der heiligen Schrift wird verkündet: ‚Ein Mund, der die Wahrheit sagt, hat auf immer Bestand, eine lügnerische Zunge nur einen Augenblick.’ Auch lehrt uns die Bibel : ‚Der Pfad der Gerechtigkeit führt zum Leben...“, der Blick des Vampirs schweifte hin zur vergewaltigten, schwer misshandelten und immer noch bewusstlosen Rothaarigen, ehe er sich dann wieder in die Augen Karls' grub, „...der Weg der Abtrünnigen führt zum Tod.’“
Mit einem Ruck riss Julius den Kopf des Krüppels zur Seite, entblößte den Hals und schlug blitzschnell seine Zähne in das Fleisch des Opfers, wobei augenblicklich ein Schwall dessen Blutes geradewegs seine Mundhöhle füllte. Unablässig saugte und schluckte der Vampir mit gierigem Verlangen. Mit der Zeit wurde der Blick des Vergewaltigers leerer, seine Augen verdrehten sich nach oben, die Gesichtsmuskulatur entspannte sich, die Glieder wurden schlaff und ein letztes Mal entwich warme, feuchte Luft seinen Lungenflügeln. Julius leckte über die Bisswunde am Hals, die er Karl zugefügt hatte, um diese dadurch zu verschließen und unkenntlich zu machen. Dann ließ er den blutleeren Leichnam plump zu Boden stürzen und trat ihn mit unglaublicher Wucht wie einen nassen Sack auf den Müllhaufen, über den sich Unmengen von Ratten hermachten. Ludmilla, die immer noch auf der selben Stelle auf dem Boden kauerte, war immer noch entsetzt, aber auch überwältigt über die Bilder, die ihr dieses Nachts dargeboten worden waren. Dennoch spürte sie, so brutal und grausam ihr der Tod der Männer auch vorkam, keinerlei Mitleid mit diesen Subjekten; nur eine tiefe, innere Befriedigung. Überdeutlich war ihr klar geworden, dass, wenn sie auch nur die Möglichkeit und die Macht gehabt hätte, die Männer zu töten und ihnen ihre gerechte Strafe zu Teil werden zu lassen, sie keine Sekunde gezögert hätte, diese ins Inferno zu schicken. Aber wie sehr hatte sich doch ihre Vorstellung von Julius gewandelt. Der liebenswerte, gefühlvolle Mann, den sie stets kennengelernt hatte, war ihr nun von einer völlig anderen Seite offenbart worden; einer Seite, die teils mit einem tollwütigen Raubtier, das seinen Gegner mit gnadenloser Vorgehensweise zerfetzt, teils mit einem zivilisiertem Monstrum, das sehr wohl ethisch-moralische Grundgedanken, unter anderem in Hinsicht auf Gerechtigkeitsverständnis, aufrechterhält, zu vergleichen war. Die kaum erfassbare, auf ihre Art auch zum Teil perverse Faszination, die dieser Wesenswandel in ihr hervorrief, überschattete das Entsetzen und den Schock, den die Zwanzigjährige durch eben diese Offenbarung erfuhr, so dass sich ihr Verständnis bezüglich ihres Herrn zwar radikal änderte, jedoch nicht ins Negative: Sie verurteilte seine Tat nicht, denn sie erkannte, dass sie an seiner Stelle nicht anders gehandelt hätte.
Julius, dessen Züge sich wieder normalisiert hatten, trat auf sie zu, reichte ihr wie ein Edelmann die Hand, welche von einer nahezu schwarzen, dicken Blutkruste überzogen war, und half ihr auf die Beine.
„Du hast dein Kleid unnötig beschmutzt. Doch ich bezweifle nicht, dass Franz es mühelos wieder zu reinigen vermag.“
Er strich ihr den gröbsten Dreck mit der Handfläche vom Saum ihres Rockes, wobei er jedoch unachtsamer Weise diesen mit dem Blut auf seiner Hand, das sich in Kontakt mit dem durchnässtem Rock wieder verflüssigte, beschmierte und noch unansehnlicher machte.
„Ach, lassen wir das. Kümmern wir uns doch zu Hause darum. Ich denke, die Aufregung an diesem Ort genügt fürs’ erste. Du hast für heute genug erfahren. Komm! Lass uns zurück reiten.“
Doch Ludmilla widerstrebte der Gedanke, schlichtweg wieder die Heimreise anzutreten. Ihr Mitleid für die junge Frau war zu groß, auch verstieß es gegen ihre Prinzipien, die Frau verletzt auf der kalten, nassen Straße ihrem Schicksal preiszugeben.
„Wartet! Wir können sie doch nicht einfach hier liegen lassen! Wir müssen ihr helfen! Seht, sie blutet. Sie wird sicherlich erfrieren, wenn wir sie zurücklassen!“, richtete sich Ludmilla an ihren Herrn.
„Jeden Moment könnte jemand vorbeikommen. Er würde die bewusstlose Frau mit aller Wahrscheinlichkeit finden und sich ihrer annehmen; daran habe ich keinen Zweifel. Doch sei gewiss, dass wenn dieser jemand augenblicklich auftaucht, er auch die Leichen dieser Unholde sehen und uns, die wir ganz allein hier stehen, mit deren gewaltsamen Tod in Verbindungen bringen würde. Unter diesen Umständen könnte diese Person zu einem unangenehmen Zeugen werden, uns sogar anklagen. Und nun bedenke, dass ich aufgrund einiger Vorschriften dazu gezwungen bin, ebensolche Vorfälle ins Reine zu bringen, um größeres Aufsehen zu vermeiden. Mit anderen Worten hieße dies: Ich wäre gezwungen diese Person zu töten.“, entgegnete Julius gelassen und pädagogisch.
„Aber die Frau...“
„Die Frau würde gleichermaßen den Platzt der Person einnehmen, von der ich eben sprach, da sie auch die Leichen sehen und mit uns, oder genauer gesprochen mit mir in Verbindung bringen könnte – sieh nur mein blutbeschmiertes Äußeres. Wie ärgerlich!“, fluchte er, währender eifrig den Stoff seines Hemdes aneinander rieb, um die Flecken so gut es ging fortzurubbeln, „Die gehen niemals mehr heraus!“
„Ich meinte auch, dass wir sie mitnehmen könnten...zu uns nach Hause.“
Julius starrte Ludmilla, die verzweifelt versuchte der Rothaarigen zu helfen, fragend und ungläubig an.
„Das ist nicht dein Ernst? Kannst du dir auch nur annähernd begreiflich machen, welche Art von Aufmerksamkeit wir auf uns laden, wenn wir mit einer zusammengeschlagenen, geschundenen jungen Frau durch die überfüllten Straßen gehen würden; dazu auch noch blutbeschmiert?“
Die Zwanzigjährige senkte betroffen ihren Kopf, schloss die Augen und vergoss eine weitere Träne, die über ihre zarte, blasse Wange Richtung Mundwinkel lief. Der Vampir, sich des unglücklichen inneren Zustandes seines Schützlings bewusst werdend, streifte mit seiner Hand durch ihr offenes, tief schwarzes Haar, küsste ihr behutsam die salzige Träne fort und schmiegte seine Stirn sanft gegen die ihre. Dann ging er auf die Vergewaltigte zu, beugte sich herab und fuhr mit seiner Zunge über ihre tiefen, blutenden Wunden, welche sich allmälig schlossen, dann verblassten und anschließend gänzlich verschwanden.
„Was habt Ihr da getan?“, fragte Ludmilla verblüfft.
„Das einzige, was ich in der Lage oder auch gewillt bin zu tun. Ihre Wunden – zumindest die Ersichtlichen – sind geheilt, so dass sie fortan keinen Blutverlust erleiden wird. Und nun lass uns heimkehren.“
Julius erschrak im ersten Moment, als er sah, dass Ludmilla überraschend auf ihn zugestürmt kam, ihre zierlichen Arme herzlich um seinen Körper schlug und sich eng an ihn schmiegte.
„Habt Dank, Herr!“
Und trotz der Tatsache, dass seine Lippen immer noch mit dem Blut des Vergewaltigers befeuchtet waren, küsste sie ihn liebevoll auf den Mund.


Das blutige und dreckverkrustete Kostüm war neben den übrigen Kleidern, sowie der mit Brüsseler Spitze versehenen Unterwäsche, achtlos auf den weißen, italienischen Marmorboden, dessen Glanz den Schein der Kerzen auf den Anrichten mit würdevoller Pracht reflektierte und befähigte, das kleine Badezimmer strahlend hell zu erleuchten, geschmissen worden. Das an den Seiten mit goldschimmernden Schwänen verzierte Porzellanbecken in Mitten des Zimmers, das für eine Badewanne eine beachtliche Größe hatte, war gefüllt mit warmen Wasser, welches durch den Zusatz von verschiedenen orientalischen Ölen und Aromen einen lieblichen, betörenden Duft verströmte. Langsam und bedächtig ließ Ludmilla ihren jungen Körper, der von der nächtlichen Kälte während des Heimritts nicht verschont gewesen blieb, ins Bad gleiten. Ihre Augen geschlossen, dachte sie an das, was dieses Nachts in den Straßen Königsbergs geschehen war: den drei Männern, der geschändeten Frau, sowie die Reaktion und das Erbarmen ihres Herrn. Für einen kurzen Moment verkrampften sich ihre Muskeln und ein frierendes Zucken durchlief ihren Leib angesichts der Dinge, die sie mitangesehen hatte. Doch eines war ihr gewiss: die Frau in der Gasse würde überleben. Daran hatte sie keinen Zweifel. Oder versuchte sie sich nur beruhigender Weise einzureden, sie hätte keinerlei Zweifel? Das Mädchen verdrängte diese Gedanken, ließ sich zurückfallen und legte ihren Kopf auf den kühleren Beckenrand ab.
„Wie geht es dir, Liebes?“, drang es von Richtung der Tür aus.
Ludmilla erschrak, obwohl sie wusste, wer es war. Ruckartig drehte sie sich, mit verschränkten Armen ihre Blöße bedeckend, um und schaute in das liebenswürdige, doch leicht besorgte Gesicht von Julius, der lautlos den Raum betreten hatte. Er trug sein Haar nun lang, so dass auch seine ansonsten an den Seiten nach oben hin gerollten Locken bündig und glänzend mit dem Haupthaar auf den nackten Schultern herunter hingen. Ludmilla bemerkte, dass seine Haut gesünder und rötlicher aussah als sonst, und sie wusste auch nur zu gut aus welchem Grund.
„Ich wollte lediglich, dass du siehst, wer oder was ich bin. Ein Bild von meinem Wesen konntest du dir bereits mit Hilfe von Büchern machen. Aber wusstest du damals wirklich was dich erwartet hätte, wenn du mir des Nachts bei meinen Handlungen zugeschaut hättest?“
Ludmilas Blick richtete sich gen Boden.
„Meine Absicht an diesem Abend gab ich dir bereits bekannt. Es liegt nun an dir, nachdem du weist, wer ich bin, was ich im Stande bin zu tun und auch in Zukunft weiterhin tun werde, ob du mich verlässt oder ob du weiterhin an meiner Seite leben willst. Du hast die freie Wahl der Entscheidung. Hälst du mich für ein reißendes, tötendes Monster oder für den Mann, den du lieben lerntest?“
„Ihr seid ein reißendes, tötendes Monster, das keine Gnade kennt und mit einer Brutalität und Grausamkeit vorgeht, mit der…“, sie stockte kurz und atmete tief,“...mit nicht einmal die wildesten Tiere vorgehen würden.“
Eine Woge der Enttäuschung und Schmerzes, durchzogen vom Gefühl der Trauer überkam ihn, nachdem er diese Worte aus dem zarten, lieblichem Mund seiner Ziehtochter vernommen hatte. Doch er hatte ihre Meinung zu akzeptieren. Er wollte sie unter keinen Umständen zwingen, bei einem Untier zu bleiben, das sie verachtete.
„…Doch seid ihr auch ein reißendes, tötendes Monster, das bereit ist zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht zu unterscheiden. Dies offenbarte sich mir, als ihr der Unglücklichen halft, ihre Wunden versorgtet und ihre Schänder erbarmungslos zur Aufgabe zwangt. Ein Monster, das bereit war mich, als ich noch ein Kind war, aus dem Sumpf aus Armut, Gewalt und Prostitution zu erretten, so dass mir eine liebevolle und gesicherte Zukunft, sowie exzellente Bildung zu Teil werden konnte. Ihr seid das Monster, wenn ihr es so ausdrücken wollt, das ich damals lieben lernte und auch jetzt weiterhin liebe. Herr, lasst mich bei euch bleiben!“
„Du bist hinsichtlich meiner Natur nicht angewidert? Du bist im Stande Zuneigung zu jemandem zu hegen, der bezüglich seines Handelns dem Verhalten eines wilden Raubtieres gleichkommt?“
„Eure Seele und eure Absichten sind rein, Herr! Natürlich bin ich im Stande, vielleicht sogar mehr als je zuvor, weil ihr den Mut aufbrachtet mir zu offenbaren, was ihr seid. Ihr riskiertet, dass ich euch verlassen würde, dass wir fortan getrennte Wege gehen würden. Doch dem ist nicht so, denn…“, Ludmilla zögerte, sah Julius, der unbeschreiblich erleichtert, doch reglos im Türrahmen stand, tief in die Augen, „denn ich liebe euch!“
Nach diesen Worten machte sich eine schamhafte Röte auf dem Körper der Zwanzigjährigen breit. Julius kam auf sie zu und instinktiv senkte Ludmilla die Arme, die sie bis dato pausenlos vor ihren Oberkörper postiert hatte, so dass sie ihrem Herrn den Blick auf ihre wohlgeformten Brüste, welche von winzigen Wassertröpfchen benetzt waren und im Kerzenlicht schimmerten, freigab.



ENDE des I. Aktes
 
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