Deutsches Regelwerk
Wenn Rollenspieler zur Zeit vermehrt von Pulp sprechen, hat das nicht viel mit Nostalgie oder Ahnenkult zu tun. Es geht meist nicht um Howards Conan und die Geschichte der Fantasy, sondern um eine etwas sonderbare Mixtur aus Spielstil und einem Genre, das es im Grunde gar nicht gibt. Durchsucht man die enorme thematische Vielfalt der Kurzgeschichten in Pulp-Magazinen wie den Weird Tales oder Argosy nach ihren Gemeinsamkeiten, kommt am Ende nicht viel mehr dabei heraus, als als eine bunte Sammlung abgedrehter Motive und der erklärte Wille, auf Teufel komm raus zu unterhalten.
Zumindest in dieser Hinsicht erfüllt das »Pulp Adventure Rollenspiel« Hollow Earth Expedition die Genrekriterien voll und ganz. Auf dem Cover des Grundregelwerks sehen wir eine Gruppe von Abenteurern, die sich mit Händen und Füßen (genauer: mit Gewehren und Zaubersprüchen) eines Tyrannosaurus Rex erwehrt, während sich im Hintergrund ein riesiges Bohrfahrzeug aus dem Boden wühlt. Oben drüber noch eine Überschrift in fetten »Indiana Jones Lettern« und eigentlich ist schon alles gesagt.
Hollow Earth Expedition (HEX) versucht keine Umsetzung einer bestimmten Reihe aus den Pulps, sondern bietet eine Spielwelt in den 1930er Jahren, die mit Figuren und Konzepten aus der vollen Breite der Vorlage befüllt ist: Dinosaurier, Atlantaner, verrückte Wissenschaftler, Verschwörungen und nicht zuletzt die Nazis als allgegenwärtiger Hauptfeind. Die geheimnisvolle Hohlwelt tief unter unseren Füßen ist der zentrale Schauplatz und zugleich auch das Thema von HEX. Früher oder später landen alle Spielrunden dort unten, wo sie von einer mit Sicherheit absolut tödlichen Situation direkt weiter in die nächste stolpern – der Cliffhanger als Dauerzustand.
So jedenfalls die Idee, deren Umsetzbarkeit noch vor dem guten Willen der Spieler von etwas anderem abhängt:
Das Regelsystem
HEX wird nach dem Ubiquity-System gespielt, laut Klappentext ein »innovative Regeln, die sowohl einen spannenden Verlauf der Geschichte als auch kinoreife Actionszenen unterstützen«. Tatsächlich ist Ubiquity ein vereinfachtes D&D, das über so genannte Stilpunkte um einen erzählerischen Mechanismus ergänzt wurde.
Proben werden meist auf Fertigkeitswerte abgelegt, die sich aus einem Bezugsattribut und Fertigkeitsstufen ergeben. Aus beiden ergibt sich ein Pool an W2, die jeweils 50% Chance auf einen Erfolg mit sich bringen. Die Art der Würfel ist demnach egal – wer mag, kann auch Münzen werfen. Gewürfelt wird allerdings nur, wenn es knapp wird. So lange die durchschnittliche Erfolgszahl größer als der Mindestwurf ist, gilt die Probe automatisch als bestanden.
Das Würfelsystem hat Vor- und Nachteile. Einerseits hat scheinbar jeder einen intuitiven Zugang zur 50/50 Chance und kann sein Risiko auf einen Blick einschätzen. Das bringt Spannung und provoziert schnelle Abläufe anstatt vorsichtigen Abwägens. Leider wird der Vorteil durch ständiges Zählen gleich wieder relativiert: Erst muss die modifizierte Größe des Würfelpools ermittelt werden, dann die entsprechende Würfelzahl gegriffen werden, aus der dann wieder Erfolge zu zählen sind. Bei der großen Nähe zwischen Ubiquity und d20 drängt sich die Frage auf, warum es nicht einfach bei einem Würfel bleiben konnte.
Für HEX gibt es stattdessen eine Sammlung spezieller W8, die dann je nach Farbe eine unterschiedliche Anzahl an W2 ersetzen. Das mag ganz witzig sein, riecht aber schon ein wenig nach Innovation zum Selbstzweck.
Der erzählerische Mechanismus ist gelungener. Jeder Charakter verfügt über einen Pool an Stilpunkte, die er bei gefährlichen Proben hinzuziehen kann oder mit denen er einen ansonsten tödlichen Treffer absorbieren kann (»Alles in Ordnung – nur eine Fleischwunde!«). Die Möglichkeit, sich mit diesen Punkten Plotelemente zu kaufen, ist ebenfalls angedeutet, wird aber leider nicht weiter ausformuliert.
Stilpunkte regenerieren sich nicht von selbst, sondern werden vom Spielleiter vergeben, wenn ein Charakter unter einer seiner Schwächen leidet, ein Spieler »gut rollenspielt« oder die Spielrunde in seine Wohnung eingeladen hat. Solche spielexklusiven Mechanismen machen kein Storygame aus HEX und mögen vielleicht ein wenig überholt daher kommen; ein pulpiges Gegenmittel zu »Würfel gut oder stirb!« sind sie aber trotzdem – oder vielleicht gerade darum.
Insgesamt funktioniert das Regelwerk jedenfalls, auch wenn die Kombination erzählerischer Willkürpunkte mit ellenlangen Manöverlisten nicht endgültig überzeugend kann. Erfreulich ist die hohe Einsteigerfreundlichkeit des System. Keine einzige Regel verweist versehentlich auf vorausgesetztes Vorwissen, und alles lässt sich schnell an eben den Stellen nachschlagen, an denen es auch zu vermuten ist (und selbst wenn nicht, gäbe es auch noch einen Index).
Die Spielwelt
Interessanter ist die Spielwelt von HEX. Die Hohlwelt stellt eine Art Pulp-Kabinett dar, das vom Spielleiter mit allem befüllt werden kann, was ihm absurd genug erscheint. Die Vielfalt der Pulps findet verschmilzt in HEX zu einem großen Ganzen und ist beliebig erweiterbar. Es gibt weder eine Karte, noch lange Listen von Monstern, Sprachen oder Schiffstypen – stattdessen einen Baukasten voller Vorschläge, aus denen sich Abenteuer mit Pulpgeschmack schreiben lassen.
Gerade wegen dieser inhaltlichen Offenheit, ist es höchst erfreulich, dass HEX ausführliche formale Hilfestellungen enthält. Es werden gleich zwei verschiedene Kampagnenstile anhand von Beispielen durchexerziert und dem angehenden Spielleiter so Gerüste geboten, an denen er sich beim Schreiben eigener Abenteuer orientieren kann. So kommt Struktur ins Chaos und das Spiel läuft nicht so leicht Gefahr, sich in der »Hauptsache abgefahren« zu verirren.
Neben der phantastischen Hohlwelt wird in HEX natürlich auch die uns vertraute Oberflächenwelt beschrieben. Einige Fakten über die 1930er bieten eine brauchbare Einstimmung in die Gegenwart der Pulps. Waren es in den Geschichten oft einsame Inseln oder ferne Planeten, auf denen sich das Sonderbare abspielte, erscheint uns heute schon die Alltagswelt ihrer Autoren fremdartig. Es ist wesentlich für die aktuelle Pulp-Welle, dass sie retrospektiv abläuft. Viele der Science Fiction Elemente sind inzwischen von der Realität überholt worden, das so genannte globale Dorf hat kaum noch Platz für vergessene Plateaus und der irgendwie noch coole Nazivillain hat bewiesen, dass er die Dämonisierungen des Groschenromans um ein Vielfaches überbieten konnte.
Ganz ohne Augenzwinkern geht es vermutlich nicht, und so ist auch der Hintergrundteil des Regelwerks eher auf Eckdaten und unterhaltsame Details ausgerichtet, als auf die historische Rekonstruktion à la Cthulhu.
Das deutsche Buch
Das deutsche Regelwerk macht einen soliden Eindruck. Der Einband ist stabil und die Illustrationensind stimmungsvoll (die Schwarzweißbilder sogar noch mehr als die eher comicartigen Farbseiten). Endlich mal wieder ein Grundregelwerk, in dem sich aus Spaß an der Freude herum blättern lässt!
Leider ist der Text nicht ganz so gut gelungen. Der schnodderige Ton des Originals klingt im Deutschen ein wenig gewollt und es ziehen sich ärgerliche Übersetzungs- und Tippfehler durch das Buch. Nicht dass ihre Zahl dramatisch hoch wäre, aber falsch geschriebene Eigennamen (»Vules Verne«) und falsche Freunde (»Middle East« gleich »Mittlerer Osten«) hätten spätestens im Lektorat auffallen können. Im Gegenzug ist allerdings mindestens ein Fehler des Originals korrigiert worden und Mussolinis historische Leistung, die Züge pünktlich fahren zu lassen, wird nun nicht mehr Hitler angerechnet.
Fazit
Hollow Earth Expedition bietet ein konsistentes Patchworksetting, in dem sich abgedrehte Abenteuer spielen lassen, und dazu ein funktionierendes, schnelles Regelwerk. Letzteres ist sicher nicht so innovativ wie der Klappentext verspricht, leistet aber dennoch ziemlich genau das, was es soll. Die hohe Einsteigerfreundlichkeit und das Kapitel zum Kampagnendesign kann man gar nicht genug loben, zumal das Setting sicher auch über die typischen Fantasyzirkel hinaus ansprechen kann.
Titel: Hollow Earth Expedition
Art: Grundregelwerk
Regeln: Ubiquity System
Sprache: Deutsch
Verlag: Uhrwerk Verlag
Publikationsjahr: 2009
Autor: Jeff Combos
Übersetzer: Florian Don-Schauen, Marcus Sollmann
Illustrationen: Stephen Daniele, Mike May, Mark Selander, Jeff Slemons
Umfang: 254 Seiten
Bindung: Hardcover
Preis: 39,95 €
Rezensent: Jan-Paul Koopmann
Links:
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