[Mai 2008] Die endlose Straße

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The Fnord

Guest
Jack saß an einem der hinteren Tische in einer kleinen Nische. Er ließ sich von der Bedienung schwarzen Kaffee nachgießen. Die Tasse zuvor wurde zur Hälfte im Blumentopf neben ihm geschüttet und der Rest erkaltete während er sich mit seinen Privatangelegenheiten am Tisch beschäftigte. Vor ihm lag ein Exemplar des Rock Hard Magazins mit Hochglanzfotos. Aufgeschlagen war eine Seite mit Club-Rezensionen. Die besten Kritiken erntete ein Laden namens Black Hammer in Finstertal. Jack telefonierte gerade mit seinem Agenten welcher nicht sonderlich begeistert war stets während seines wohlverdienten Feierabends mit seinem besten Klienten reden zu müssen. Auf der anderen Seite sah er Jack als einen Nachtfalter. Jeden Abend trieb sich dieser in verqualmten Kneipen und Bars herum - das war einfach seine Welt. Die Quelle seiner Inspiration. Während des Gesprächs über die nächsten Vorhaben blickte Jack einmal prüfend auf den nächtlichen Parkplatz des Diners. Sein Vehikel stand noch immer dort. Niemand schien sich seinem Wagen zu nähern.

Zufrieden lehnte sich Jack auf der Ledergarnitur zurück und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch. Trotz des beeindruckend detaillierten Ambientes des Diners kam in Jack kaum das Gefühl eines echt amerikanischen Restaurants auf. Er vermisste die guten alten Zeiten in denen er allein die verbliebenen Teilstücke der einstigen Route 66 mit nichts weiter als seinen Siebensachen in einem rostigen Cadillac bereiste. Es zog ihn dabei durch acht Bundesstaaten, von Illinois bis nach Kalifornien. Schon der Kontrast zwischen Start- und Zielort war beeindruckend. Während es in Chicago die meiste zeit über kühl und regnerisch war, herrschten in Santa Monica eine fast immer bestehende Schwüle und erdrückende Wärme. Sein Glück war es, dass die Temperaturen nachts in den meisten Fällen auf ein annehmbares Niveau fielen. Am meisten mochte Jack die Restaurants in den westlicheren Südstaaten wie Texas oder Arizona. Sie waren für ihn zum Symbolbild seiner langen Reisen geworden. Hier im Münchener Lokal Feuerstein war es zwar auch schön, aber es war eben doch kein Original wie in den Staaten.

Während Jack die Zahlungsmodalitäten mit seinem Agenten abklärte, genoss er ausgiebig den Freiraum auf der Eckbank. Er drehte sich um 90 Grad und schwang die Beine hoch auf das Polster, so dass die Spitzen seiner rotbraunen Cowboyschuhe zur Decke empor zeigten.

Immer wieder kommentierte sein Agent gewisse Einzelheiten und verwies auf die Wichtigkeit dieser Dinge. Jack machte sich dabei Notizen auf einem Schreibblock und blätterte bei unwichtigen Konditionen gedankenverloren durch das Magazin. Nachdem alles besprochen war, steckte er das Smartphone wieder in seine Hosentasche. Der Kaffee wurde erneut zur Hälfte in die Topfpflanze geschüttet. Jack fuhr sich durch die langen Haare und blickte auf die erneut aufgeschlagene Seite mit dem Bericht über das Black Hammer. Nachdem er seine Brille am Shirt putzte, riss er die Seite heraus und steckte sie ein. Einem Bekannten aus München sendete er die Nachricht, dass er die Stadt noch heute verlassen würde. So schnell wie er dort vor einiger Zeit auftauchte, so schnell verschwand er auch wieder. Keine großen Worte des Abschieds und auch keine Treffen mehr. Er war Gast in München und so konnte es ihm niemand verübeln, wenn er die Domäne wieder stillschweigend verließ. Nachdem er die Rechnung zahlte, setzte er sich in seinen Wagen und gab in das Navigationsgerät den Namen Finstertal ein. Heute Nacht würde er es nicht mehr schaffen, doch nur hundert Kilometer vor der Stadt reservierte ihm sein Agent ein Zimmer für den Tag. Und selbst wenn er es nicht bis dahin schaffen würde, so würde er einfach in seinem umgebauten Geländewagen schlafen. Irgendein Redneck Hinterwäldler rüstete das Vehikel Mitte der neunziger Jahre für ein paar Flaschen Hochprozentiges und zweihundert Dollar so um, dass er darin vor den Sonnenstrahlen geschützt war und somit gefahrlos ruhen konnte. Es war ein weiter Weg und Jack dachte darüber nach, wie er das erste Mal in Deutschland war – weit weg von den Staaten. Bereits Mitte der neunziger Jahre merkte er, dass er sich wieder eine neue Deckidentität suchen musste. Sein Aussehen war zu vielen Menschen bekannt geworden und das bereits zum zweiten Mal.

Für Jack stand damals fest, dass sein neues Heimatland außerhalb von Nordamerika liegen musste. Mindestens zehn bis zwanzig Jahre sollte es dauern, bis er wieder in die Staaten gehen konnte ohne Aufsehen zu erregen. Für diesen Überbrückungszeitraum lag nichts näher auf der Hand, als nach Europa zu gehen und dort zu touren. Er befasste sich viel mit der Geschichte der einzelnen Länder, informierte sich weitreichend über Kultur und Subkultur. Auch Mentalitäten und Sekten wurden unter die Lupe genommen. Letztlich fiel die Entscheidung auf Deutschland. Hätte er doch bloß vorher gewusst, was es mit dieser Sprache auf sich hatte! Es dauerte Jahre bis er einigermaßen die Grundelemente der deutschen Sprache beherrschte. Doch schon zu diesem Zeitpunkt musste er aufbrechen. Auf deutschem Boden angekommen besuchte er in der zweiten Nacht ein Museum. Ein Toreador lud ihn zu einer privaten Führung ein. Wahrscheinlich wollte dieser einfach nur seinen Geschmack und Reichtum unter Beweis stellen. Jedenfalls führte sie sein Ghul durch die Ausstellung und kommentierte rücksichtsvoll auf Englisch. Jack überraschte beide mit seinem - wie er damals dachte - ausreichend guten Deutschkenntnissen. Der Toreador zeigte großes Interesse und nachdem Jack eine Weile geredet hatte, sagte er, Jacks Deutsch sei sehr selten, möglicherweise ein Unikat und er wolle es gern in sein Museum aufnehmen. So viel also dazu...

Nachdem er den Großteil der Strecke nach Finstertal auf Autobahnen fuhr, ging es auf Landstraßen weiter. Trotz der allumfassenden Dunkelheit versuchte Jack so viel wie möglich von der Landschaft zu sehen. Verkehr gab es zu dieser Zeit keinen mehr. Nur zwei grelle Scheinwerfer erhellten die Nacht. Jack kam bei der Pension zum Stoppen und checkte ein. Mit Hilfe seines Charmes stellte er im Gespräch mit dem übermüdeten Inhaber sicher, dass weder er noch sonstiges Personal Jacks Raum vor Einbruch der Dunkelheit betreten würden. Ein völlig übermüdeter Reisender, der zum ersten Mal seit langem so richtig ausschlafen und daher absolute Ruhe haben wollte. Das erregte wenig Verdacht. Jack spendierte dem Inhaber sogar ein üppiges Trinkgeld.

Im Zimmer schottete er alle potenziellen Sonnenlichtquellen penibel genau ab und verschloss die Tür von Innen. Den Schlüssel ließ er stecken. Jack schaltete das Licht aus, legte sich ins Bett und hörte zum Einschlafen noch etwas Musik. Dazu dienten das Smartphone und Kopfhörer. Jack war gespannt zu erfahren, was Finstertal für eine Domäne war. Gut, er wusste, dass sie von der Camarilla regiert wurde, aber das waren so ziemlich alle Städte in Deutschland und daher nichts Besonderes. Seine Gedanken drifteten ab. Wie wenig doch alle wussten...

Zum Beispiel wusste kaum jemand, dass Oscar Zeta Acosta noch lebte. Nun gut, leben war übertrieben, aber tot war er auch nicht wirklich. Jack traf Acosta '95 in Arizona. Angeblich wurde dieser '74 bei einem Drogendeal von mexikanischen Kartellmitgliedern getötet, doch in Wahrheit rekrutierten sie ihn für den Sabbat. Acosta war schon immer ein Spinner, doch der Sabbat ließ ihn dann wirklich bis zur Schmerzgrenze pervertieren. Auf der anderen Seite vertrat Acosta aber noch immer viele seiner früheren Ideale und verbreitete diese auf ganz eigene Art und Weise. Er machte in vielen Südstaaten stark halluzinogene Drogen in so großem Umfang zugänglich, dass ganze Jugendkulturen an dem Verlangen nach Antworten auf unlösbare Fragen zerbrachen. Viele Seelen stürzten für immer ins Dunkel, doch andere erlangten ewige Weisheit und zogen ihrerseits auch los, um die Idee von der Freiheit des Chaos zu propagieren. Jack verstand es und er genoss die Gesellschaft Acostas eine gewisse Zeit lang, bis es ihn dann wieder weiter zog.

So tat er es eigentlich immer. Er kam an einen neuen Ort, lernte diesen und seine Bewohner kennen und verabschiedete sich irgendwann wieder. Manchmal blieb er aber auch längere Zeit, wie damals im Freistaat an der Westküste. Es war die Zeit der Rodney King Aufstände '92. Er sah den Zorn in den Straßen aufflammen und er sah, wie die Anarchen mit solchen Angelegenheiten souverän umzugehen wussten. Das beeindruckte Jack und er entschloss sich, drei Jahre lang in der Stadt der Engel zu leben. Es war so völlig anders, als in allen anderen kanitischen Kulturen, die er bis dahin kennenlernte und dennoch gab es mehr Ähnlichkeiten, als man anfangs dachte. Alle Sekten hatten Territorien, alle hatten mehr oder minder eine Hierarchie und alle wahrten eine eigenwillige Form der altbekannten Maskerade. Selbst der Sabbat konnte es sich nicht erlauben, in Heerscharen zügellos durch die Straßen von Detroit zu morden. Der große Unterschied zur Camarilla bestand allein darin, dass man seinen Instinkten folgte und zu gegebenen Anlässen alle Perversionen auslebte, die in einem untoten Raubtier hervorgerufen werden konnten.

Jack sah viele ganz verschiedene Kainiten kommen und gehen, sah sie aufblühen und verwelken. In dieser Welt war nichts mehr neu, aber es gab noch sehr viel zu entdecken, das man zuvor noch nicht gesehen hatte. Im Gedanken an die Entdeckung von Neuland schlief Jack auf seinen Hotelbett ein.

Am nächsten Abend verließ er die Unterkunft und fuhr die letzten hundert Kilometer nach Finstertal. Vor seinem Aufbruch in München ließ sich Jack noch die Telefonnummer eines Nosferatu aus Finstertal besorgen. Er verstand sich gut mit den Verborgenen und bewunderte ihren Sinn für das Geschäftliche. Er gab die Nummer in sein Smartphone ein und drückte die Anruftaste.
 
Es läutete. Eigentlich nichts ungewöhnliches, aber normalerweise war er mit dieser Nummer nur insofern freigiebig, als daß er einigermaßen wissen konnte, wer da anrief. Das war jedenfalls das Ideal. Herrn Steven hatte er sie ja seinerzeit auch so überlassen. Es war nur nicht unbedingt Standard.

So oder so mußte sich der Anrufer kurz gedulden, während Thürmer sicherstellte, daß er die Nummer wirklich nicht kannte. Schließlich nahm er aber ab. Immerhin war es möglicherweise wichtig oder gar etwas Geschäftliches !

"Dr. Alfons E. Thürmer, sie wünschen bitte ?"

Im Hintergrund hallte es leicht. Man konnte nur vermuten, wo sich der Gesprächsteilnehmer gerade herumtrieb. Aber das war bei Nosferatu ja auch irgendwie normal, nicht ?
 
Der behäbige Geländewagen ratterte noch immer auf der Fahrbahn, was eine gewisse Geräuschkulisse am anderen Ende der Leitung verursachte.

"Guten Abend Herr Doktor Thürmer. Mein Name ist Jack Cunningham. Ein gemeinsamer Freund aus München war so frei, mir Ihre mobile Telefonnummer zu übergeben. Ich hoffe, dass ich Sie bei nichts Wichtigem störe, aber mir wurde mitgeteilt, dass Sie mir weiterhelfen können. Ich bin auf dem Weg nach Finstertal und suche einen Ortskundigen, der mich auf meinen Aufenthalt entsprechend vorbereiten kann. Natürlich würde ich Ihnen in diesem Fall eine angemessene Entlohnung für Ihre Bemühungen zukommen lassen. In gut einer halben Stunde werde ich die Stadt erreichen. Hätten Sie heute Abend noch Zeit für mich?"
 
Thürmer überlegte kurz. Heute stand eigentlich noch einiges an. Andererseits ließ man gemeinsame Freunde aber nicht hängen, und auch der Klang des Namens hielt ihn davon ab. Thürmer kannte ihn von irgendwoher, konnte aber gerade nicht festmachen, woher genau. Nun, dann würde er ihn wohl dazwischenschieben müssen !

"Eine halbe Stunde ist etwas knapp, Herr Cunningham !" Vor allem, weil selbiger sich als Ortsfremder würde durchfragen müssen. "Treffen sie mich in vierzig Minuten am Kriegerdenkmal in Finstertal-Burg. Dort können wir alles weitere besprechen." schlug er vor. Manchmal war so eine Karte doch ganz nützlich, das Kriegerdenkmal war ihm gut in Erinnerung geblieben, obwohl er es nur vom Papier kannte.
 
"In Ordnung.", erwiderte Jack kurz und bündig. Nicht jedoch, ohne sich nochmals zu bedanken und sich höflich beim Gesprächspartner abzumelden.
Er fuhr mit dem Wagen rechts an den Straßenrand und gab die neue Adresse in sein Navigationsgerät ein. Technik, die begeisterte.
 
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