AW: Kanon in Rollenspielen
Kanon ist das, was alle, die dasselbe Rollenspiel spielen, als gemeinsame Basis an Hintergrundinformationen für das Setting ihres Spiels ansehen.
Kanon bezieht sich nicht auf das Regelsystem an sich, da dies im Allgemeinen unabhängig von Kanon-Informationen ausgetauscht werden kann (Deadlands-Kanon ist z.B. völlig unabhängig von Classic Deadlands Regeln, D20 Regeln, GURPS Regeln, Savage Worlds Regeln).
Wenn jemand Engel spielt und er "erklärt" die im bislang veröffentlichten Material nicht erklärten Fegefeuer nach seinem Geschmack, so ist das ziemlich sicher immer noch Kanon, da es der von allen Spielern des Rollenspiels "Die Chroniken der Engel" genutzten Grundinformation nicht zuwiderläuft, weil es nicht in Widerspruch zu offiziellem Material steht. Dabei ist es egal, ob noch in Zukunft etwas dazu veröffentlicht werden soll, denn der Spieler/Spielleiter kann ja nicht hellseherisch vorahnen, was der Verlag in 5 Jahren vielleicht mal als Kanon-Erklärung für die Fegefeuer publizieren wird, wenn er JETZT schon dazu etwas spielen will.
Wenn jemand Engel spielt, und er läßt negroide Engel auftauchen, er läßt die Engel auch Mächte quer über alle Ordensgrenzen hinweg "erlernen", er führt neue Orden mit coolen Powers ein, dann KANN man überlegen, ob dies dem Kanon des Engel-Rollenspiels zuwiderläuft, oder ob das noch möglicherweise innerhalb des Engel-Kanons zulässige Interpretationen sind, auch wenn die Kanon-Information eigentlich explizit sagt, daß es keine negroiden Engel gibt, daß die Ordensmächte nur von Engeln innerhalb des Ordens und nicht von anderen Orden ausgeübt werden können, und daß es früher nur acht, in der Zeit der Spielwelt, wo die Bücher angesiedelt sind aber nur noch sechs Orden gibt und keine weiteren. - Hier wäre jemandem, der alle offiziellen Engel-Publikationen auswendig kennt, sofort bewußt, daß es sich hierbei um eine weit von den Kanon-Informationen wegführende Interpretation des Hintergrundes handelt.
Wann merkt man denn den Kanon?
Den Kanon merkt man eigentlich nicht, wenn man nur in seiner kleinen, lokalen Spielrunde ein Rollenspiel spielt und es so, wie es von allen gespielt wird, Spaß macht.
Den Kanon merkt man eigentlich nur dann, wenn man versucht Material, welches entweder offizielles Material des Original-Verlags oder Material von Lizenzherstellern zu verwenden und die Verwendung nicht etwa auf regeltechnische Probleme stößt (dies ist eine Frage der Regelkompatibilität, nicht des Kanon - D20-Publikationen sind z.B. nur systemkompatibel, aber nicht zwingend kanonisch), sondern mit dem bislang in der eigenen Spielrunde so gespielten Hintergrund nur schwer vereinbar ist.
In soweit ist es stets problemlos, wenn man sich an ein Grundregelwerk mit Settingbeschreibung hält und NICHTS mehr hinzukauft, sondern den Rest selbst entscheidet und selbst entwirft. Dann gibt es keine Kompatibilitätsprobleme mehr.
Je mehr Kanon-Publikationen man jedoch erwirbt, desto mehr schränkt einen diese zusätzliche, offizielle, und somit verfestigte Information in seinen eigenen Freiheitsgraden der Interpretation ein.
Bei Engel war im ersten GRW nichts dazu zu lesen, daß die Urieliten "nachtaktiv" sein sollen. Erst nach Erscheinen des zugehörigen Ordensbuches waren plötzlich alle Urieliten (Menschen wie Engel) vornehmlich im Dunkelen aktiv. Wenn man bis vor das Erscheinen des Ordensbuches schon seine Schar in Urielsland positioniert hat und dort auch schon Szenen zum Alltag im dortigen Himmel durchgespielt hat, dann ist das schon nicht so einfach hier plötzlich quasi im Nachhinein redefiniert als "Das war schon immer so" die Nachtaktivität einzuführen. Entweder man führt sie - inklusive Bruch der Kontinuität und inneren Logik der eigenen Kampagne - im Nachhinein ein, oder man ignoriert alles zum Thema Nachtaktivität aus dem Ordensbuch (und allen späteren Kanon-Büchern, die sich darauf beziehen!) völlig und verläßt damit den Bereich der kanonischen Auslegung des Engel-Hintergrundes, da man ja ein offizielles Fakt der Engel-Hintergrundwelt bewußt ändert.
Wenn ein Hintergrund bröckchenweise publiziert wird - was bei über viele Jahre hinaus geplanten Publikationsreihen ja der normale Weg ist - dann werden die Spielrunden, die sich in der Anfangszeit der Veröffentlichung auf dem kleinen Materialbestand ihre Auslegung des Hintergrunds erlaubt hatten, in die Kompatibilitätsproblematik gelangen, sobald neues Material herauskommt, das Bereiche des Hintergrundes festlegt, in denen die laufenden Spielrunden bereits ihre eigene Festlegung getroffen haben.
Nur wer abwartet bis ALLES an Kanon-Material publiziert wurde - also wer abwartet bis die Reihe eingestellt wurde (z.B. Old WoD), der hat überhaupt die Chance sich einen Gesamtüberblick über den Kanon an Materialien zu verschaffen und bewußt daraus seine Kampagne zurechtzubasteln.
Aber wer tut das schon?
Normal ist doch, daß man die Bücher kurz nach ihrem Erscheinen kauft und versucht deren Inhalte spielerisch zu nutzen.
Den Kanon merkt man also nur daran, daß man bei Neuerscheinungen in Kollisionen des neuen Materials mit eigenen Auslegungen und eigener Kreativität gelangen kann.
Was für Vorteile hat es denn, wenn ein Rollenspielhintergrund einen Kanon hat?
Der Hauptvorteil liegt bei wechselnden Spielergruppen vor demselben Hintergrund. Da kann sich ein Spieler hier wie dort verlassen, daß sein Charakter in den Hintergrund paßt, daß die gleichen Kräfte in der Spielwelt hier wie dort agieren werden, und daß er seine Hintergrundkenntnisse auch zur Steigerung seines Spielvergnügens einfließen lassen kann, weil diese ja immer noch gültig sind.
Wenn jemand aber mit einem kanonischen Charakter in eine Spielrunde gerät, die nicht-kanonisch spielt, so ist nicht sicher, ob sein Charakter, dessen Beziehungen, dessen Herkunft, etc. überhaupt noch in diese Nicht-Kanon-Spielrunde passen. Und seine Kanon-Hintergrund-Kenntnis nutzt dem Spieler im neuen, veränderten Hintergrund auch wenig.
Auf diese Weise bin ich bei Engel schon mal ziemlich böse "gerupft" worden, da die in der betreffenden Runde interpretierte Engel-Welt schon ziemlich weit weg von der aus dem Engel-GRW und den Ordensbüchern war. Das fand ich sehr verstörend. Dadurch konnte ich mir nicht sicher sein, wie sich die Spielwelt verhalten würde, wenn ich etwas tat, was bislang in allen anderen Engel-Runde normal war und reproduzierbar die gleichen Ergebnisse zeitigte.
Aus diesem Grund ist bei wechselnden Rundenzusammensetzungen der Kanon als kleinster gemeinsamer Nenner schon ein Vorteil.
Ein Problem ist jedoch ein Kanon, der nicht mehr auf eine Handvoll Bücher, sondern einen Bibliotheksbus voller Bücher verteilt ist. Hier ist es schwer dies noch in der Funktion als KLEINSTER(!) gemeinsamer Nenner zu sehen.
Je umfangreicher der Kanon, desto wahrscheinlicher ist es, daß eine konkrete Spielrunde UNBEWUSST nicht mehr im Kanon spielt, weil diesen eh keiner vollständig überblicken kann.
Je flüchtiger ein Kanon, d.h. je schneller die neuen, offiziellen Publikationen des Herstellers plausible Auslegungen aufgrund der alten Publikationen mit "überraschenden Wendungen" über den Haufen werfen, desto wahrscheinlicher, daß eine konkrete Runde BEWUSST nicht mehr nach dem Kanon spielt, um die innere Kontinuität ihrer Spielweltinterpretation zu wahren.