Freiheit

M

mottte

Guest
Der Kies knirschte unter ihren Füßen als sie den Parkplatz verließ, auf dem sie die vorangegangene Nacht verbracht hatte. Einen Moment lang hielt sie inne, um die Schachtel mit den Zigaretten aus ihrer Tasche zu fischen. Routiniert zog sie mit spitzen Fingern eine Kippe heraus und entzündete sie, während sie daran zog und in die Flamme des Feuerzeuges schielte.
Blinzelnd blickte sie hinauf in die grelle Sonne schräg über ihr, die wie ein trübes starres Auge auf sie hinabsah. Ihre Wimpern schoben sich in ihr Sichtfeld und sie sah alles wie durch unscharfe Gitterstäbe hindurch. Eine Träne bildete sich zitternd in ihrem Augenwinkel. Sie senkte ihren Kopf wieder zu Boden und der Salzwassertropfen kullerte ihre Wange hinunter.
Mit dem Handrücken wischte sie den nassen Streifen fort.
Sie setzte ihren Weg fort. Der Duft heißen Teers stieg ihr in die Nase. Es ist Sommer, dachte sie veträumt. Sommer in der Großstadt.
Es war schwül und die Luft stand im Raum wie ein Mückenschwarm. Lästig und surrend. Durch ihre Bewegungen schien sie diese Mauer aus heißer Sommerluft zu durchbrechen. Wie der Bug eines Schiffes schob sie sich durch die zähe staubige Masse. Der Rauch, den sie beim Ausatmen ausstieß, blieb einen Moment reglos in der Schwebe stehen, bevor er sich lautlos verflüchtigte.
Überhaupt war es seltsam still in der Stadt. Die Trägheit des Wetters hatte auch auf die Menschen abgefärbt. Diese hatten sich verkrochen in ihre Häuser und warteten dort wie halbvertrocknete Schnecken auf Erlösung durch den nächsten Regen.
Ihre Zigarette neigte sich dem Ende zu. Kurz hielt sie inne. Wohin diesmal?
Wie so oft hat sie kein wahres Ziel. Viel lieber ließ sie sich treiben vom Aufwind des Lebens.
Die Ermahnungen ihrer Eltern hallten in ihrem Kopf wider. An die Zukunft denken. Geld verdienen. Später mal Familie. Gesicherte Existenz.
Es würgte sie bei dem Gedanken daran, einmal eine gesicherte, bürgerliche Existenz zu führen und ihr Leben dafür her zu schenken, zwei Kinder groß zu ziehen und ihrem Mann die Hausarbeit zu erledigen. Genauso abstoßend wirkte auf sie der Gedanke als Berufstätige ihren Single-Haushalt mit Bürojobs zu finanzieren... es hatte einfach jede bereitstehende Option etwas erschreckend Vorhersehbares und Banales an sich. Sie konnte sich nicht helfen!
Sie beschloss den Weg zum Bahnhof einzuschlagen. Bahnhöfe hatten so etwas Tröstliches. Sie waren Obdach für orientierungslose Menschen jeder Art. Durch die Möglichkeit des Ausweges – wohlgemerkt allein durch die Möglichkeit – spendeten sie Trost und Zuversicht.
Sie müsste sich nur in einen der bereitstehenden Züge setzen und schon wäre sie raus. Ihre Füße würden sich vom müden Asphalt ihrer Stadt lösen und sie könnte kurzzeitig fliegen auf den silbernen Schwingen der Bahn.
Wenn sie aus dem Fenster blickte, könnte sie die Landschaft vorbeiziehen sehen. Wie in einem Film. Wie im Traum.
An jeder Zughaltestelle, an der der Zug zum Stehen kam, stiegen Leute aus und ein. Sie würde alles von innen durch ihr Glasfenster hindurch beobachten. Sicher und zufrieden. Wie vor dem Fernseher. Wie im Kino.
Und dazwischen sie – die ewig Pendelnde.
Ein Trupp drängelnder und schreiender Schüler riss sie aus ihren Gedanken. Mittendrin der Lehrkörper, sichtlich überfordert. Die Hauptbeschäftigung der zehn- bis zwölfjährigen bestand darin, sich gegenseitig zu schubsen und dabei ohrenbetäubend zu kreischen. Die Lehrerin versuchte – möglichst ohne viele Verluste – die wuselnde Masse in die offenstehenden Türen des Regionalexpresses zu schieben.
Welche Erfüllung musste es doch sein, in solch einem Beruf zu arbeiten, dachte sie ironisch. Ein Satz von Nietzsche kam ihr in den Sinn: der Beruf ist das Rückgrat des Lebens. Was war dann eigentlich mit ihr? Hatte sie kein Rückgrat?
Sie schob den Gedanken beiseite wie einen vergilbten Vorhang. Trotzdem blieb ein melancholischer Schimmer wie ein bitterer Nachgeschmack im Raum hängen und bedrängte sie.
War es wirklich der Aufwind des Lebens, der sie vorantrieb? Und ging sie überhaupt voran oder redete sie sich diese Tatsache nur ein um ihr unbeständiges Dasein zu rechtfertigen?
Es war immer die fehlende Luft zum Atmen gewesen, die sie veranlasst hatte aus ihren Beziehungen und Bindungen zu fliehen. Und jetzt rauchte sie und vergiftete ihre Lungen mit Teer. Der Widerspruch bohrte sich schmerzend in ihr Herz und auf einmal sah sie sich selbst mit grausamer Nüchternheit.
Ein Kind auf der Flucht vor sich selbst. Es waren nicht die Vorschriften gewesen, auch nicht die Regeln und die gesellschaftlichen Zwänge, die sie vertrieben hatten, sondern ihre Angst. Die Angst vor jeglicher Konfrontation.
Stets hatte sie es vorgezogen zu fliehen, sich Diskussionen zu entziehen und sich selbst im Strudel des Rausches zu verlieren und zu vergessen. Sie hatte nie ernsthaft versucht, sich klar zu machen, wer sie war.
Sie wollte es nicht wissen. Und deshalb hatte sie die meiste Zeit nur neben sich gestanden, wenn sie etwas tat. Sich selbst beim Handeln zusehen, das konnte sie gut. Dadurch sprach sie sich selbst die Verantwortung ab.
Ein klumpender Schmerz durchdrang ihre Kehle. Sie selbst war es, die sie stets ihrer Freiheit beraubt hatte.
Ein kaltes Zittern durchfuhr sie und ein lautes Schluchzen brach aus ihr hervor, als kämpfe sich ihr wahres und verdrängtes Ich gerade aus ihrem Inneren hervor, in welches es gesperrt worden war.
Der Schaffner bedachte sie im Vorbeigehen mit einem verwunderten Blick und als er sah, dass sie nicht in den Zug einsteigen wollte, sondern sich stattdessen weinend auf eine Bank niedersinken ließ, zog er seine Trillerpfeife hervor.
„Zurückbleiben, bitte!“
Der schrille Pfiff erfüllte die Bahnhofshalle bis in den letzten Winkel. Krachend schlossen sich die Zugtüren und surrend und stampfend setzte sich die träge Masse vor ihren Augen in Bewegung. Die stehende heiße Luft wurde durch die ruckartige Anfahrt in Wirbel zersplittert und umkreiste sie wie eine Schar Kinder. Sie zupfte an ihren Haaren und riss an ihren Kleidern.
Sie war nicht mitgefahren.


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