Zwischenzeit

Nex

felis curiosa philosopha
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10. August 2005
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Es war Mitternacht, als die schweren Glocken des Klosterturms mit ihrer düsteren und schaurigen Mähr das mittelalterliche Städtchen erfüllten und ihre Klangstäbe ihre wuchtigen Körper zum Erbeben brachten. Die Gassen waren leer und auch in den Häusern brannte schon längst kein Licht mehr, so dass die Stadt tot und ausgestorben wirkte. Doch im alten Kloster, das am Rande auf einen Hügel gebaut wurde, huschte ein kleiner Schatten durch das alte Gemäuer. Anfangs nur zaghaft, doch immer schneller werdend, bahnte er sich seinen Weg durch das Kloster. Lautlos wie ein Raubtier schien er durch die unzähligen Gänge zu gleiten, vorbei an Ikonenbildern, Wandteppichen, Statuen, Säulen und Treppen. Selbst die schweren zweiflügligen Holztüren, die ihm wie riesenhafte Tore erscheinen mussten, öffnete der Schatten mit einer Leichtigkeit so lautlos, dass man glauben konnte, er würde durch sie hindurchschlüpfen. Das Mondlicht strömte durch die großen Fenster in die Gänge und schien zu versuchen dem Schatten aus der Dunkelheit entreißen zu wollen. Eine Wolke schob sich vor den Mond und entzog ihm für eine kurze Zeit die Leuchtkraft. Der Schatten eilte unbeirrt weiter und ließ sich von nichts und niemanden aufhalten. Er kannte sein Ziel. Wieder zogen Bilder, Wandteppiche, Statuen und Säulen an ihm vorbei bis er zu einer kunstvoll geschnitzten Türe kam, die mit christlichen Motiven aus der Bibel verziert war und er noch behutsamer als die anderen öffnete.
Nun trat er sachte ein. Als seine Füße den kalten Marmorboden berührten, fror er in seiner Bewegung ein und sah sich kurz um; Zu beiden Seiten waren Holzbänke im bunten Licht des Mondes zu erkennen, das durch die Fenster brach. Sie zeigten zur Linken Szenen aus der Genesis, der Erschaffung der Welt, und zur Rechten Szenen des Jüngsten Gerichts. Neben dem Schatten befand sich eine Engelsstatue mit einer Schale in den Händen, in dem sich Weihwasser befand. Für einen kurzen Moment verhaarte er noch im Dunkeln und betrachtete nun eingehender den Raum. Dann zog er durch die Nase den übrigen Weihrauchduft ein, der noch immer in der Luft hing, und schritt Richtung Altar. Seine Glieder wurden immer schwerer, je näher er dem Altar kam und so konnte der Mond seine Gestalt preisgeben. Es war ein kleines Mädchen in einem weißen Nachthemd mit dunklem Haar. Ihre Schritte wurden immer kleiner und sie zögerte immer mehr ihrem Ziel näher zu kommen. Doch schließlich kam sie beim Altarraum an, begab sich hinter den Altar und betrachtete das große jahrhundertealte Fresco an der Wand. Das Bild schien zu leuchten, trotz der kargen Beleuchtung des Raumes und als sie es mit der Hand berührte, war ihr als würde das Szenario auf dem Altarbild durch ihre Berührung lebendig und an ihr Ohr drang ein Gesang. Das Mädchen lauschte ihm eine Weile, betrachtete dabei das Bild traurigem Blick und kauerte sich dann zitternd hinter den Altar mit dem Rücken zum Bild. Es kehrte wieder Stille in dem Kloster und der Stadt ein. Die Glocken waren längst verklungen und auch der Gesang. Für einen Moment war die Welt in eine zerbrechliche Ruhe gebettet.
Doch plötzlich wurde diese Ruhe von einem Geräusch durchbrochen. Einem Geräusch, das wie ein Herzschlag in den Ohren des Kindes pochte und immer lauter wurde. Es kam näher, aber das Mädchen bewegte sich nicht. Sie kauerte noch immer hinter dem Altar und zitterte. Nach einer Zeit, die ihr unendlich erschien, vernahm sie ein leises Quietschen und das Schleifen eines schweren Gegenstandes auf einer glatten Oberfläche. Eine kleine Lichtkugel formte sich am anderen Ende der Kapelle. Wieder war dieses quietschende und schleifende Geräusch zu hören. Nachdem es wieder verklungen war, schien die Lichtkugel etwas in der Kapelle zu suchen. Die Kugel wirbelte durch die Bankreihen, vorbei an Beichtstuhl und Kanzel bis sie sich ihren Weg zum Altarraum bahnte. Erst jetzt konnte man erkennen, dass es sich um eine kräftige Nonne mit einer Kerze in der Hand handelte. Das Kind hockte immer noch wie versteinert hinter dem Altar und wartete bis die Frau sie gefunden hat.
„Was machst du hier?! Geh’ sofort zurück zu den anderen in den Schlafsaal!“, das Kind blickte auf und sah die Nonne mit großen Augen verstört an, „Keine Widerrede! Ich will heute nichts mehr von dir hören! Morgen werde ich dich bei der Äbtissin melden!“
Sie packte das Mädchen am Oberarm, zog es hoch und hinter sich her aus der Kapelle. Das Gesicht der Nonne war noch immer vom Zorn zu einer hässlichen Fratze verzerrt, doch sie begann sich wieder zu beruhigen, als sie merkte, dass das Mädchen freiwillig mit ihr mitkam. Die Frau umschloss noch immer den Arm des Kinds fest mit ihrer Hand, doch lockerte ihren Griff immer mehr, je weiter sie wieder in den alten Bau vorgedrungen waren und ließ schließlich den Arm wieder los, damit das Mädchen das letzte Stück des Rückweges selbst gehen konnte. Wie eine Puppe ging sie neben der kräftigen Frau her bis sie zu einer kleinen hölzernen Tür einbogen. Die Nonne zog am Metallring der Tür, die sich quietschend öffnete. Der schwere Gegenstand schliff über den hölzernen Fußboden.
Als die beiden das Zimmer betraten, schliefen die anderen Mädchen schon seit langem. Sie schienen zufrieden in ihren Betten zu schlummern, dennoch erinnerten sie an Leichen, die nebeneinander geworfen wurden, um später in einem Massengrab begraben zu werden. Womöglich lag dies aber nur an dem fahlen Mondlicht, das durch das einzige Fenster im Raum schien. Die Nonne geleitete das Kind zu seinem Bett am Fenster, das aussah wie all die anderen, und verließ darauf mit einem leisen Knarren der Tür den Schlafsaal der Mädchen, während sich das Kind in ihr Bett lag. Sie starrte aus dem Fenster und betrachtete den Himmel; Die untere Hälfte des Mondes wurde von einer Wolke verdeckt, die Sterne wirkten bedrohlich und fremd und die Stille, die sie umgab, hallte im Raum wieder und machte sie fast unerträglich. Alles wirkte so unwirklich wie ein Traum, den man schon am nächsten Morgen vergessen hat. Langsam schloss sie ihre Augen und schlief ein.

Die ersten Sonnenstrahlen ließen die Finsternis der vergangenen Nacht schmelzen und kündigten begleitet vom Vogelgesang den neuen Tag an. Die Nonne, die das Mädchen in der Kapelle gesehen und wieder zurück gebracht hatte, stand nun am Rande ihres Bettes und riss sie unsanft aus dem Schlaf. Sie schrie das kleine Mädchen mit dem dunklen Haar wieder an, doch die kleine Kind schien ihr nicht zuzuhören und stattdessen in einer anderen Welt zu sein. Plötzlich spürte das Kind einen brennenden Schmerz auf ihrer linken Wange und wurde mit ihren Gedanken aus ihrer Traumwelt zurück in diesen Schlafsaal geholt. Die Nonne schrie sie noch immer an, doch dann drehte sie sich um und stapfte aus dem Schlafgemach. Das Mädchen saß noch immer im Bett, als die Nonne den Raum verlassen hatte, und betastete vorsichtig mit den Fingerkuppen ihre rote Wange. Sie war allein im Raum, das Fenster war offen und der Wind wehte ins Zimmer. Einen Moment lang fror sie in der Bewegung ein, schien zu überlegen. Dann stand sie auf, zog sich an und kletterte unter ihr Bette, unter dem sie einen Leinensack hervorholte, den sie einst vom Kloster geschenkt bekommen hatte. Sie nahm ihr übriges Hab und Gut und stopfte es in den Sack. Daraufhin verhaarte sie wieder kurze Zeit in ihrer Bewegung. Sie starrte aus dem Fenster, sog die frische Morgenluft ein und schaute sich noch einmal im Zimmer um, um ihre Erinnerungen von diesem Gebäude und den Menschen, die ihr hier begegnet waren, vor ihrem geistigen Auge noch einmal Revue passieren zu lassen. Dann kletterte sie aus dem Fenster und verschwand mit dem Sack über die Schulter geworfen im anliegenden Wald. Niemand hatte sie dabei beobachten und als die Nonne mit der Äbtissin zurück in den Schlafsaal kam, konnte sich keiner erklären wo das Mädchen abgeblieben sei. Der Vorfall würde bei der Stadtwache gemeldet, doch das Kind blieb verschwunden…

©by Nex aka Rei-san
 
AW: Zwischenzeit

Das ist mal die neueste Version von meiner bisher längsten und beliebtesten Geschichte "Zwischenzeit". Wenn euch der Prolog gefällt oder nicht, schreibt mir doch bitte eure (konstruktive) Kritik und Meinung.

Wegen der Zeit:
Ich habe absichtlich keine Zeitangabe in dieser Geschichte (nur ein paar kleine Andeutungen), weil ich sie nicht in eine bestimmte Zeitspanne zwingen will, vor allem, weil es eine Fantasy(?)-Story ist. Im ersten Kapitel wird dann aber die vergangene Zeit zwischen Prolog und Kapitel1 erwähnt.

Wenn's euch gefällt, werde ich auch die weiteren Kapitel hier veröffentlichen.
 
AW: Zwischenzeit

Mir hats bis jetzt ja gefallen, hab ich dir ja auch schon gesagt.

Ich will mehr davon lesen, das hab ich dir ja auch schon gesagt ;)
 
AW: Zwischenzeit

Japp, du bist ja mein Erstleser. ;)

Trotzdem würd ich gern die Meinung von anderen auch hören. *mim ganzen Zaun wink*
 
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