Thomas und Anna - von Cornelia Funke

micha17

Neuling
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29. Mai 2005
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Hier mal ne nette Story von Cornelia Funke, sie zählt als deutsche Antwort auf Joanne K. Rowling. Liests mal durch und Viel Spaß. :)


Thomas und Anna

Cornelia Funke
Seine Lunge brannte und er rang nach Atem. Der Bus war schon nicht mehr zu sehen. „Verdammt!“ keuchte er. Dabei hatte Thomas doch alles genau eingeplant. Hatte er sich an der Kasse zu lange aufgehalten, wieder zu lange einen Punkt angestarrt ohne etwas zu denken? Wieder ewig herumgetrödelt? Das wusste Thomas nicht so genau. „Wieso passiert das ausgerechnet mir?“ seufzte er, während ihm Schweißperlen die Stirn herabkullerten. Als er den Fahrplan begutachtete, stellte er enttäuscht fest, dass er auf den nächsten Bus noch eine Weile warten musste. Er richtete seinen Kopf auf und ein plötzlicher, angenehmer Schauer lief ihm über den Rücken, kalt und warm zugleich. Sein anfängliches Stirnrunzeln schien im nächsten Moment verschwunden, seine Gesichtszüge wirkten freundlicher und heller. Inzwischen war er froh, den Bus verpasst zu haben. Heilfroh. Dort, auf der anderen Straßenseite lief sie gerade am Café „Joy“ vorbei. Besser gesagt, sie glitt über den warmen Asphalt. Ihr goldenes Haar glänzte majestätisch. Es war das Mädchen, welchem Thomas insgeheim schon lange sein Herz geschenkt hatte. Sie wusste es nur nicht, er konnte es ihr nicht sagen. Ein Nein hätte er nicht ertragen können, deswegen begnügte er sich noch mit Phantasien und Schwärmereien. Schon verschwand sie in einer Seitenstraße, ihre Blicke trafen sich nicht. Einen Moment lang hielt Thomas inne und dachte über sein Pech nach, was kurz darauf von diesem glücklichen Zufall abgelöst wurde. „Faszinierend“ war das Wort, das er ein paar Mal in sich hineinmurmelte. Dann beschloss er, noch ein Weilchen durch die Stadt zu schlendern. Nach wenigen Schritten hinderten ihn aber seine offenen Schnürsenkel daran, weswegen er sich genervt herunterbückte, um sie wieder fest zusammenzuknoten. Gebückt wirkte er noch kleiner und schmächtiger als er sowieso schon war. Vielleicht hätte ihn der Autofahrer sonst gesehen. Natürlich hätte er ihn bemerkt, es lag nur an seiner Größe. Thomas wusste nicht, wieso er sich gerade bei der Einfahrt gebückt hatte, um seine Schuhe zu binden. Er wusste nicht, wieso gerade er von diesem Auto angefahren wurde, nachdem gerade ihm der Bus vor der Nase weggefahren war. Wieso er genau neben Anna im Krankenhaus aufwachte und mit ihr ins Gespräch kam, das war ihm auch ein Rätsel. Aber das alles war nicht so wichtig. „Hey, du bist doch Thomas aus der Zwölften“, bemerkte sie aus dem Nachbarbett. „Ich dachte es mir schon die ganze Zeit, als du noch geschlafen hast.“ Thomas lag schon über mehrere Tage hinweg in diesem hell beleuchteten, fahlen Raum. Er konnte sich nur noch an den kurzen stechenden Schmerz in der Brust erinnern, kurz nachdem er die Schnürsenkel übereinandergeschlagen hatte. Von den Notoperationen bekam er nichts mit. Tagelang lag er in seinem weißen Krankenbett, vollgepumpt mit Schmerzmitteln und betäubenden Substanzen, gleich neben ihr. Noch im Halbschlaf bewegte er die Lippen: „Ja...und du bist doch die Anna.“ Er bekam nur beiläufig mit, dass sie sich nach einem Sturz das rechte Bein gebrochen hatte, aber schon bald wieder nach Hause entlassen würde. Wieder dachte er über diese seltsamen Zufälle nach. Nun musste er nicht mal mehr zu ihr, sie war schon da. Das Mädchen, dem er sein Herz geschenkt hatte. Und sie lächelte zurück. Thomas kniff sich in den Arm, denn solche Tagträume hatte er schon zu Genüge gehabt und wollte nicht schon wieder zum Opfer seiner Gedanken werden. Es tat weh. Thomas strahlte. Es tat wirklich weh.
 
Interessanter Schreibstil und nettes Setting :)

Vielleicht etwas umständlich, aber ich kann mit Thomas fühlen, es gibt Frauen, für die man sich sogar FREIWILLIG vom Auto anfahren lassen würde, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen ;) :)
 
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