Risus [Risus] Was steckt in einem Klischee?

Zornhau

Freßt NAPALM!
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Ein geradezu jämmerlicher Artikel über "Charaktererschaffung im Wandel" in den News hier im Forum hat mich dazu veranlaßt diesen Thread zu eröffnen.

Eine der schwächsten und gleichzeitig aufregendsten Passagen darin ist die nachfolgend zitierte und kommentierte (solch ein Ärgernis KANN ich nicht unkommentiert lassen). Das dort Dargestellte ist derart niederschmetternd, daß man Risus geradezu als MEDIZIN verabreichen müßte, um die Leidenden genesen zu lassen:
... Einen ganzen Abend dauerte die Charaktererschaffung und am Ende hatte jeder Spieler einen mehrseitigen Charakterbogen, auf dem alle Spielwerte eingetragen waren. Für die meiste Zeit im Rollenspiel war dieser Charakterbogen nur wenig hilfreich.
Da hat jemand noch nicht so ganz realisiert, daß ein Charakterbogen IMMER nur einen Teil, meist den Teil der relevanten Spielwerte, des Charakters enthalten KANN. Mehr nicht. Der eigentliche Charakter ist immer das, was man mit den Spielwerten, vor allem aber mit der eigenen Phantasie des Spielers im Spiel tatsächlich darstellt. - Hier liegt eine seltsame Erwartungshaltung an die Aufgaben eines Charakterbogens vor.

Ich verwende auf Cons STÄNDIG vorgenerierte Charaktere, da man so schneller die knappe Con-Spielzeit nutzen kann. Ich verwende z.B. für Deadlands: Reloaded immer dasselbe Dutzend vorbereiteter Charaktere (auch für unterschiedliche Abenteuer auf Cons). Dabei werden dieselben Charaktere (die exakt gleichen Charakterbögen) auf unterschiedlichen Cons von unterschiedlichen Spielern gespielt. - Und das sind GANZ ANDERE CHARAKTERE!

Die Spielwerte stellen nur einen gewissen Rahmen, eine regeltechnische Kompetenz der Charaktere dar. Das ist aber nicht einmal das halbe Spiel. - Die MENSCHEN, die SPIELER sind es doch erst, die egal welche Spielwerte mit LEBEN erfüllen.

Was soll dann also der Charakterbogen noch alles "können" außer die relevanten Spielwerte halbwegs übersichtlich abzulegen?

In besonderen Situationen forderte der Spielleiter Würfe auf bestimmte Charaktereigenschaften. Die Spieler konnten dann nach einigem Suchen in den Charakterbögen ablesen, ob der Wurf erfolgreich war oder nicht.
Und wenn man auch erst noch "nach einigem Suchen in den Charakterbögen" irgendeine spielrelevante Information findet, dann sind entweder die Spieler außerordentlich UNKUNDIG über ihre eigenen Charakterbögen im Speziellen und das Regelsystem im Allgemeinen, oder das Regelsystem ist für die Spieler zu kompliziert, zu unintuitiv, und wird von ihnen deswegen nicht beherrscht. - Das kann man ändern, indem man ein Regelsystem verwendet, wo alle Angaben, wirklich ALLE spielrelevanten Angaben auf EINE Seite passen.

Hinweise auf die Persönlichkeit des Charakters, auf sein alltägliches Leben, auf seine Vergangenheit oder auf seine Ziele und Ideale enthielt der Charakterbogen nicht.
Dann taugt der Charakterbogen nichts, bzw. hat er keine (meist unbedruckte) Rückseite? - Vor allem: Was alles SOLL denn da überhaupt draufstehen?

Noch größeres Problem: Was WEISS man denn WIRKLICH schon bei der Charaktererschaffung von seinem Charakter?

Ich habe immer ein wenig "Einspielzeit" gebraucht, um tatsächlich herauszufinden, was für meine Charaktere passende Ziele, Ideale usw. sind - und die Persönlichkeit meiner Charakter schwingt sich auch erst im Zusammenspiel mit den anderen Spielern ein. - "Vorderlader"-Charaktere funktionieren bei mir nur eher schlecht. - ICH weiß zur Charaktererschaffung noch nicht genug über die "weichen Faktoren" eines Charakters und MICH würde eine Überspezifikation in dieser Richtung sogar geradezu im Spiel behindern.

Die Charaktere besaßen daher nur wenig Individualität.
Selbst schuld. - Ohne Phantasie auch keine Individualität.

Wenn man sogar bei den ältesten D&D-Versionen Charaktere mit IDENTISCHEN Spielwerten (soviele Spielwerte gab es damals ja auch noch nicht) mit VÖLLIG UNTERSCHIEDLICHER Persönlichkeit, unterschiedlichem Auftreten, unterschiedlicher Ausstattung usw. spielen konnte, dann ist das "Nicht-Individualisieren" ganz klar ein Problem des jeweiligen SPIELERS. - "Phantasie-Vitaminmangel".

Wie ich oben schon schrieb: Sogar mit spielwerte-identischen, vorgenerierten Charakteren spielen unterschiedliche Spieler derart INDIVIDUELL VERSCHIEDEN, daß an Individualität KEIN MANGEL herrscht.

Wir bedienten uns meistens allgemein bekannter Klischees bei der Darstellung unserer Charaktere.
DAS ist der Punkt, weshalb ich diesen Charaktererschaffungsartikel hier im Risus-Unterforum zitieren wollte.

"Allgemein bekannte Klischees".

Das ist doch nicht etwa das Problem, sondern das ist die LÖSUNG!

Mit Klischees hat man kompakt jede Menge an Informationen über den Charakter, seine Herkunft, seine Zukunft, sein Streben, sein Können, seine Gefühle, sein Beziehungen, usw.



Daher hier die bestmögliche Empfehlung zum Thema "Was steckt in einem Klischee?"

Risus-Neulinge sollten sich unbedingt einmal den aus dem Risus-Companion stammenden Text "Anatomie eines Klischees" durchlesen, den man HIER in der Risus-Yahoo-Group in deutscher Übersetzung herunterladen kann.

So haben wir in sehr kurzer Zeit Spielercharaktere mit ausgeprägter Persönlichkeit erschaffen und konnten noch am gleichen Abend mit ihnen ins Abenteuer starten.
Mit Risus (aber auch mit anderen Rollenspielen) geht das bei vielen, vielen Rollenspielern auch ohne sich so zu verbiegen, wie der im oben zitierten Artikel verlinkte Ansatz maximaler "Vorbestimmung", eben das Schaffen von "Vorderlader"-Charaktere, es propagiert.

Risus arbeitet mit Klischees.

Risus verwendet Klischees.

Aber was ein Klischee alles so leisten kann, das erfordert ein wenig Erfahrung (oder Tips wie im obigen Text "Anatomie eines Klischees").

Klischees sind DAS SKELETT, auf das sich ALLE Rollenspiele stützen.

Ohne Klischees gäbe es das Hobby Rollenspiele nicht. Daher ist es für jeden Rollenspieler, egal ob Risus-Spieler oder nicht, sinnvoll sich mit Klischees und deren Mächtigkeit auszukennen. So vermeidet man solche Peinlichkeiten wie den oben verlinkten Artikel zur Charaktererschaffung.

Mir "nur" einem gängigen Klischee, aber mit individuell unterschiedlichen Spielern(!) bekommt man jede Menge tolles Rollenspiel hin. Spielwerte sind ein Luxus, der einem in speziellen Situationen solide Methoden in die Hand gibt, diese Situationen fair abzuwickeln. Klischees sind aber ein MUSS!
 
AW: Was steckt in einem Klischee?

Rollenspielalmanach schrieb:
... Einen ganzen Abend dauerte die Charaktererschaffung und am Ende hatte jeder Spieler einen mehrseitigen Charakterbogen, auf dem alle Spielwerte eingetragen waren. Für die meiste Zeit im Rollenspiel war dieser Charakterbogen nur wenig hilfreich.
Das bezieht sich wohl auf DSA2-3, wo man eine ganze eng bedruckte Seite mit Fertigkeitswerten wie Töpfern füllen muss, indem man aus dem Regelwerk abschreibt und dann noch 30 Mal Steigerungen würfelt, nur um dann einen ganzen Sack an toten Werten zu haben die im Spiel nie herangezogen werden.

Dies ist ein Sonderfall, und wohl das was damit gemeint ist, dass der Charakterbogen nur zu Bruchteilen fürs eigentliche Spiel gebraucht wird. Dir als Nicht-DSA-Sozialisierten kann das Problem natürlich nicht geläufig sein.

Ansonsten war mir schon bei
Rollenspielalmanach schrieb:
Bei der Charaktererschaffung vor einigen Tagen standen die persönlichen Ziele unserer Charaktere, ihre dunklen Geheimnisse, ihre Beziehungen zu anderen Personen und ihr soziales Umfeld im Vordergrund. Die wichtigsten Charakterwerte hatte der Spielleiter bereits im Vorfeld festgelegt und berechnet.
klar, dass der Wind wieder mal aus der nicht tot zu kriegenden "ROLEplay, not ROLLplay"-Ecke weht, und entsprechend viel Aufmerksamkeit habe ich dem Blogeintrag gewidmet.
Und dass Klischees als etwas rundum negatives gesehen werden, wundert bei dieser anspruchsvollen Haltung kaum.
 
AW: Was steckt in einem Klischee?

Zornhau schrieb:
Risus-Neulinge sollten sich unbedingt einmal den aus dem Risus-Companion stammenden Text "Anatomie eines Klischees" durchlesen, den man HIER in der Risus-Yahoo-Group in deutscher Übersetzung herunterladen kann.

Nicht nur diesen Text und nicht nur Risus-Neulinge. Das Risus-Companion ist mMn eine der besten Spielleiterhilfen, die man sich herunterladen kann und sei hiermit allen, die Englisch verstehen, wärmstens ans Herz gelegt. Zieh dich warm an, Robin D. :)

Interessanterweise wurde in irgendeinem Forum (kann jetzt leider nicht die Quelle nennen) Risus als Forge-Spiel bezeichnet. Ideen haben die Leute. :nixwissen:
 
AW: Was steckt in einem Klischee?

öhm was ist ein Forge-RPG?

The Forge ist eine Webseite/Diskussionsforum von Indie-Rollenspieldesignern (also solche ohne Unterstützung/Vorgaben eines Verlages), die für eine Reihe von sehr...seltsamen Rollenspielen und Regelmechanismen bekannt ist. Ebenso wird dort über Rollenspieltheorie diskutiert (was direkt mit den eigenartigen Regeln zusammenhängt).

Für den "Otto Subnormalrollenspieler" ist die Forge ein komischer Ort, wo komische Leute unverständliche Dinge diskutieren, die scheinbar unter dem Begriff Rollenspiel laufen, aber nach landläufiger Meinung keine/kaum welche sind, und die Quelle pseudointellektuellen Theoriegewichses.

Für andere ist es der Elfenbeinturm des genialen Spieledesigns, wo Fortschritte gemacht und theoretisches Neuland entdeckt wird.

In der Praxis ist es ein Diskussionsforum, und man kann dort recht brauchbare Hilfestellungen zum Thema Rollenspieldesign und angewandte Regelmechanismen bekommen. Nicht mehr, nicht weniger. Spiele wie "My Life with Master" oder "Sorcerer" sind allerdings tatsächlich eher unkonventionell in ihren Regelmechanismen.

So, genug von der Forge.


Ein "Klischee" ist erstmal nichts weiter als ein etablierter Archetyp, was gerade für Unentschlossene und Neueinsteiger ein brauchbares Gerüst gibt, an dem sie "ihren" Charakter aufbauen können. Ja, diese Archetypen sind nicht neu (sonst wären es keine Archetypen), aber sie müssen nicht unbedingt schlecht sein (wie man durch den Begriff "Klischee" vermuten könnte).

Der Krieger ist z.B. ein solches Klischee. Es weckt eine bestimmte Assoziation bei allen Beteiligten ("Kräftiger Typ fürs Grobe, mit dicken Waffen und einer Rüstung"). Sind deswegen jetzt 2 Krieger identische Abziehbilder? Wohl kaum. Ein Beowulf ist kein Conan, auch wenn es Parallelen gibt, und ebensowenig ist ein Elric identisch mit einem Kane, obwohl beide auf dem Papier recht ählich sind: Kernige Kriegertypen aus dem kalten Norden, die gerne ein paar Monster aus der Weltgeschickte tilgen, bzw. Antihelden mit soliden Schwert- und Magiekenntnissen im letzteren Fall.


Wenn ich eine Geschichte schreibe (oder einen Charakter spiele, beides ist in diesem Falle vergleichbar) dann beginne ich bei Null. Ich kann den Charakter beschreiben, sicher, und werde das auch tun, da es bei der Identifikation mit selbigen hilft, aber das "Innenleben" ergründet man am besten durch Taten. (Und nicht durch 12 Seiten schlechter Hintergrundprosa, die der SL bitte auswendig gelernt haben soll). Einen Charakter gleich zu beginn in Blei zu gießen ist kontraproduktiv, da auf diese weise kein Wandel, keine eigentliche Geschichte/Saga entsteht. Der Protagonist verändert die Welt, und die Welt verändert den Protagonisten. Am besten, man beginnt mit einer soliden Verhaltensgrundlage, und baut dann Schritt für Schritt auf.

Es ist z.B. uninteressant, wer die Eltern des Charakters waren, BIS dieser Fakt im Spiel eine Bedeutung gewinnt und nachgefragt wird. Ergo kann er an dem Zeitpunkt definiert werden, an dem er relevant wird, und muß nicht unnötig die Charaktererschaffung zukleistern, geschweige denn das Charakterblatt. Laßt den Charakter wachsen, nicht nur die Werte. Rom wurde nicht an einem Tag erbaut, und ebensowenig Tarok der Barbar.

Natürlich sollte der SL auch dafür sorgen, das der Char Gelegenheit zum wachsen bekommt. Der Dungeoncrawl der Woche mit anschliessendem Lootverteilen ist nicht der Stoff, aus dem man Lieder für die Nachwelt macht. Aber sieben Abenteurer, die das Bauerndorf aus den jeweils ureigensten Gründen vor Banditen beschützen, das hat Potential (und ist schon mindestens 4x verfilmt worden).

-Silver
 
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