AW: Retrotrend
Um mal zwei Beispiele zu nennen: DSA 1 (Reprint) und D&D 1 (Labyrinth Lord). Mehrere Jahrzehnte alt, plötzlich wieder aktuell. Warum?
Lautet die Devise hier KISS (Keep it simple & stupid)?
Kann ich mir nicht als einzigen Grund vorstellen.
Die aktuelle BRP-Gesamtausgabe ist ja im Wesentlichen aus lauter solcher Uralt-BRP-Regel-Teilsysteme zusammengeschrieben worden. Der wirklich neue Teil ist recht begrenzt im Umfang. - So richtig "einfach" ist BRP nicht, wenn man sich die Regelgesamtheit anschaut, die z.B. für ein komplettes Sci-Fi-Setting mit Kriegsszenarien nötig wäre (moderne Waffen, Fahrzeuge, Gebäude, Minenfelder, Raumfahrt, usw.) - da kommt schon einiges zusammen, das den an sich noch relativ überschaubaren Regelkern aufbläht.
Ich finde es eher interessant, daß gerade die beiden obengenannten Vertreter der Retro-Welle "simple Fantasy"-Rollenspiele sind.
Traveller war ja nie wirklich weg vom Fenster, RuneQuest auch nicht. - DSA 1 hingegen schon. OD&D auch.
Die aktuell prominenteren Vertreter der Retro-Welle rekrutieren sich ja alle aus Rollenspiel-Ahnen, die wirklich schon mal sechs Fuß unter der Erde waren. Ich erlebe jedenfalls KEINE Retro-Diskussionsflut zu RQ2 oder zu Gamma World 1.
Macht einfach und überschaubar glücklicher als multioptional, visionär und detailreich ausgearbeitet?
Kann man nur persönlich beantworten. - Es gibt Zeiten, wo MEHR Regeln mit BESSER assoziiert wurde. Einfach weil man "reif genug" als Rollenspieler war, sich neuen nicht nur inhaltlichen sondern auch regeltechnischen Herausforderungen zu stellen. - Regelwerke wie AD&D 1st Ed. wollen GEMEISTERT werden, damit man mit ihnen souverän spielen kann.
Wir hatten z.B. nach einiger Rollenspielerfahrung mit AD&D 1st Ed.,Traveller, Gamma World 1st Ed. usw. Midgard 1 angefangen. Als dann DSA 1 erschien, war uns (damals noch Jugendlichen) zu viel "Kiddie-Kram", nicht "ernsthaft" genug, stellte keine Herausforderung dar. - Folge: Weg damit. (Manche Abenteuer hatten wir noch gekauft und auf Midgard umgearbeitet, aber vom Regelwerk und der Spielwelt her hatte keiner mehr etwas von DSA wissen wollen.)
Heute, nach einigen Jahrzehnten Rollenspielerfahrung und mit der Kenntnis von z.T. erheblich komplexen Regelsystemen weiß ICH jedenfalls besser, was ICH für mein Spielvergnügen will. - Und da gehört "nutzlose Komplexität", die letztlich nur auf umständlicheren Wegen zu denselben Ergebnissen führt, wie einfacherer, klarere Systeme, für mich nicht mehr zu dem, womit ich meine knappen Stunden verbringen möchte.
Mit geänderten möglichen Aufwänden, mit mehr Bewußtsein darüber, was man will, was man mag, und wie man es bekommen will, fallen manche "Auswüchse" einfach nicht mehr in den Bereich der tatsächlich gespielten, der spielbaren Rollenspiele.
Auswüchse wie Regelsysteme, wo man vom Regelsystem dermaßen in Anspruch genommen wird, wo einfache Dinge kompliziert sind, und man bei mittlerer Komplexität schon das Regelsystem an die Wand schmeißen will (oder eine Conversion auf ein leichtlaufenderes macht), sind eben für MICH als Zielgruppe nicht geeignet.
Ebenso wie Settingwucher. Settings, wo man seine Spieler erst einmal lange bearbeiten muß, daß sie sich die "nur" 150 UNBEDINGT notwendigen Seiten durchlesen, die sie kennen müssen, um einen Charakter zu erschaffen, sind auch heutzutage kaum mehr machbar für mich und meine Spielergruppen. - Früher hatte ich irgendwie mehr Zeit. Da habe ich ALLES gelesen, und zwar mehrfach, was mir zu einem Setting wie Glorantha in die Finger kam. Heute kann ich einem Spieler kaum zumuten, daß er sich für einen stimmigen Charakter in über hundert Seiten, ja eigentlich sogar noch viel mehr!, einlesen soll.
Artesia ist auch so ein Beispiel eines (für mich als Fan der Comics sowieso) wunderschönen Rollenspiels, mit einer tollen Spielwelt, aber mit einer solchen ERSCHLAGENDEN Menge an Fluff UND jeder Menge Crunch, daß ich es bis heute nicht geschafft habe, mich soweit vorzubereiten, daß ich Spielern einen leichteren Einstieg ermöglichen könnte. Für mich ist das zwar ein schönes Rollenspielprodukt, aber ein ungespieltes.
Zum Vergleich: Gamma World 1st Ed., mein erstes Rollenspiel, hatte auf 59 Seiten ALLE Regeln (ja auch für Fahrzeuge, Roboter, High-Tech-Waffen und jede Menge Mutationen und ein umfangreiches Bestiarium), sowie ein halbes Dutzend Seiten an den Spielleiter gewandt, nach deren Lektüre ich mich als ANFÄNGER im gesamten Rollenspielhobby sofort in der Lage fühlte meine eigene Welt nach dem Großen Knall zu erschaffen.
Das ist "Spielleiter-Empowerment", was man heutzutage oft nicht mehr findet, wo es fast schon üblich ist Spiele "hingeknallt" zu bekommen, die einen ratlos vor der Frage stehen lassen: "Was spielt man hier eigentlich? Und wie?".
Auch die alte D&D-Basis-Box oder die DeLuxe-Traveller-Box enthielten ALLES, was man brauchte, um SELBST das Spiel zu spielen. Und das auf wenigen Seiten. Viel weniger Seiten, als dies heute üblicherweise der Fall ist.
Gab es tatsächlich rational betrachtet eine goldene Zeit der wirklich richtig guten Rollenspiele, in der zwar alles Ecken und Kanten hatte, aber man noch dazu in der Lage war, diese Ecken und Kanten selbst abzufeilen?
Klar waren in den alten Regelsystemen riesige Lücken drin. Aber der Rest hatte einen guten Zusammenhalt, daß man sicher sein konnte, auf welchem Fundament man seine eigenen, bedarfsgesteuerten Ergänzungen aufsetzen konnte.
Das gilt vornehmlich für die uralten Rollenspiele, die man auch heutzutage noch kennt und im Rahmen der Retro-Welle auch "reanimiert". - Die WIRKLICH SCHLECHTEN gab es auch schon damals. Nur spielt die niemand mehr. Nur kennt die keiner mehr. Nur WILL die keiner mehr kennen.
Jedoch: Es gibt auch MODERNE, auch ganz aktuelle Regelsysteme, die grundsolide sind, so daß man damit bestens klarkommt. Und meist sind sie ja auch noch aufgrund der Weiterentwicklung der Rollenspiele in den letzten 30 Jahren mit neueren, moderneren Eigenschaften angereichert - auch "retro"-artige Rollenspiele weisen diese Neuerungen auf, und wenn es nur Stunts oder eine bessere Organisation des Regeltextes ist.
ICH würde jedenfalls nicht mehr die alten Regelwerke mit ihren teilweise nicht gerade übersichtlichen Regelstrukturen zum Spielen heranziehen wollen. - Diese brauche ich nur noch zur Recherche für Conversions von SETTINGS und ABENTEUERN auf Basis dieser Altregelwerke.
Hier gibt es nämlich einen Unterschied, der in diesem Thread noch nicht so recht herausgearbeitet wurde:
Zum einen gibt es eine Retro-Welle in Bezug auf REGELWERKE, und zum anderen gibt es (und damit fing es eigentlich an!) eine Retro-Welle in Bezug auf SZENARIEN und SETTINGS!
Alte Settings wie Greyhawk, Star Frontiers, Glorantha, Metamorphosis Alpha sind nämlich deutlich BESSER "gealtert", als die zugehörigen Regelwerke.
Wo es in den Regelwerken "staubt" und man ihnen das Alter und die damals noch erst zu machenden Erfahrungen und Entwicklungen anmerkt, da sind die Settings und mehr noch die Abenteuer geradezu TAUFRISCH!
Daß Settings sich besser halten als Regelwerke merkt man an den einem Setting immer wieder "untergeschobenen" Regeladaptionen.
Glorantha ging durch viele (RQ1-3, RQ IV, MRQ, HW, HQ, HQ 2.0) Regeladaptionen. Gamma World kam alle Jahre wieder mit einem neuen Regelsystem heraus (darunter auch für Alternity und D20) und stellt sogar eine Art "Setting-Archetyp" dar, von dem sich andere Settingadaptionen ableiten (wie Omega-World oder auch Mutant Future aus der LL-Ecke).
Die Settings sind taufrisch - und sie weisen oft etwas auf, was vielen heutigen Settings abgeht: eine erfrischende OFFENHEIT. Man kann nicht nur, man SOLL und man MUSS sie selbst erweitern, ausbauen, daran schrauben!
Diese Settings fallen gerade bei Rollenspielern, die nicht immer nur überspezifizierten "Instant-Kram" möglichst kanon-gerecht nachspielen wollen, auf fruchtbaren Boden.
Vielfach sind auch gerade in der heute immer knapper werdenden Zeit für junge Rollenspieler (G8-Wahnsinn, Bachelor-Ärger) die Regalmeter voller Settingbeschreibung nicht mehr zu bewältigen und man wünscht sich BEHERRSCHBARERE Settings (unabhängig von der Frage nach den Regeln!).
Setting-Hopping. Das macht Schwierigkeiten, wenn man für jedes Setting ein komplett ANDERES, aber mindestens ebenso aufwendig zu erarbeitendes Regelsystem lernen muß. - Setting-Hopping ging früher leichter.
Früher war es leichter, weil es für D&D sowieso schon IMMER den Ansatz "Ein (Fantasy-)Regelsystem für unendlich viele Settings" gab. - Die meisten früheren D&D-Spielleiter schufen sich ihre Kampagnen-Welten(!) selbst. Dazu kam das Spiel in den gekauften "Fertig-Welten".
Das Regelwerk war dasselbe, die Welt war neu und aufregend anders.
Das ist kein wirklich generischer Ansatz, sondern man bleibt dem Genre "D&D-like Fantasy" treu, wechselt aber die Spielwelten.
Ebenso - und schon im Namen eingebaut - Traveller. Dort REIST man von WELT ZU WELT. - Hier sind WELTEN wirklich ständig am spielleiterischen Entstehen und am spielerischen entdeckt Werden.
Auch eigene Adaptionen waren einfacher. - Es ist keine große Kunst eine OD&D-Klasse selbst zu erstellen oder neue Traveller Laufbahn-Tabellen. Will man aber in einem D&D 3E oder 4E Regelsystem neue Klassen KOMPLETT selbst erstellen, so steht man hier vor einem gehörigen Batzen an Arbeit. Das schreckt ab. Das verlagert das SELBSTMACHEN auf die professionellen oder Fan-Produzenten. Folge: Die D20-Schwemme an SCHROTT-Produkten, die letztlich die gute Idee der OGL ziemlich zum Absaufen gebracht hatten.
Heute entdecken manche vermehrt das Do-It-Yourself, aber mit weniger Zeitaufwand!, für sich als eine weitere Spaßquelle im Rollenspielhobby wieder.
Und damit kommen auch die leichter beherrschbaren Regelwerke mehr ins Rampenlicht, die Baukastensysteme, für die man anders als bei den "Schwergewichten" kein "Studium der Regeltechnik und Systemadaption" absolviert haben muß, sondern wo man ganz spontan wie zum Hornbach zu fahren, einfach im Grundregelwerk blättert und zu basteln anfängt.
Dabei sehe ich zwischen "echten" Retro-Produkten wie diversen OD&D-Ablegern und "retro-artigen" Produkten wie Castles&Crusades und NEUEN Produkten wie True20 ein Kontinuum. - Hier kann man überall ein beliebiges altes, neues, neu, aber wie alt gemachtes Rollenspiel einsortieren, welches sich die BEHERRSCHBARKEIT der Komplexität durch den Spieler und Spielleiter auf die Fahnen geschrieben hat.
Oder ist es tatsächlich nur die sentimentale, emotional verzerrte Rückbesinnung auf die guten alten Zeiten, die den Nachwuchs mit sich in den Strudel der Identität- und Traditionssuche reißt?
Bei den knallharten Spielern von echter OD&D-Originalausgabe sehe ich reine Nostalgie als Grund dafür. - Die alten Ausgaben waren zwar dünn, aber oft eben auch etwas "unfertig". Auch TSR oder Chaosium oder GDW haben dazugelernt. (Wäre ja auch schade, wenn nicht.)
Bei den "retro-artigen" Rollenspielen sehe ich auch Nostalgie als Triebfeder, ABER auch der Wunsch nach mehr Beherrschbarkeit und einer größeren Offenheit (beides geht Hand in Hand meine ich).
Und die "Neue Leichtigkeit", die man z.B. in True20, Savage Worlds, und anderen Beherrschbar-Belastbar-Baukastenartig Produkten findet, die wird NICHT von Regelnostalgikern eingesetzt, sondern bestenfalls von Setting-Nostalgikern.
Wer sich damals im Unfrieden von der AD&D-Fassung von Athas verabschiedete, wem die inoffizielle D20-Athas-Umsetzung ein Regelkomplexitätsgreuel ist, der wird mit einer True20 oder Savage Worlds Conversion eventuell glücklicher.
Sogar eher als jemand, der ein AKTUELLES Setting nach aktuellem Regelsystem bespielt!
Hat man mal ein paar Jahre oder Jahrzehnte NICHT in einem Setting gespielt, so verklärt sich der Blick zurück. Und eine gröbere Conversion (wie sie nun einmal bei True20 oder SW der Fall sein WIRD) fällt kaum als "zu grob" auf. - Hingegen jemand, der normalerweise sein aufwendiges, detailreiches DSA 4 spielt, dem fällt bei einer Conversion sofort auf, wieviel Details, die er gestern noch alle mitten im Spielerlebnis hatte, nun an den Rand gedrängt werden und bei der rasanten Fahrt durchs Setting nur so am Fenster vorbeihuschen.
Das mag ein Grund dafür sein, warum die alten Settings "gefühlt" besser gealtert sind, als die alten Regelwerke.
Zum Spielgefühl gehört natürlich Setting UND Regelwerk gemeinsam hinzu. - Daher bin ich auch der Meinung, daß nur die extremen Nostalgiker sich BEIDES in der Altfassung geben werden. - Neuere Regelwerke laufen einfach sehr oft runder, flüssiger ohne die - von manchen schon verdrängten - ständigen "Aussetzer" der alten Regelwerke.
Beispiel: Wer verwendet mit Ernst und voll durchgehalten bei AD&D 1st Ed. die Modifikatoren-Tabelle von Waffen zu Rüstungsart? Die ist so UNPLAUSIBEL, ja geradezu schwachsinnig, daß sie eine der erste war, die bei unseren Hausregeln rausgeflogen ist.
Es mag für manche "Spätgeborene" durchaus eine interessante Erfahrung sein, wenn man mal "wie früher" spielt, um die Wurzeln des Hobbys kennenzulernen. Das ist so ähnlich wie auf einer Ritterspielveranstaltung etwas davon erfahren zu wollen, wie die Leute damals vor 1000 Jahren so gelebt haben. - Nämlich NICHT informativ.
Ein heutiger Spielleiter einer nostalgischen "Ultra-Retro"-Spielrunde hat heute z.B. 30 Jahre Spielleitungserfahrung. Damals hatte er 3 Wochen Erfahrung und war jung und motiviert und entdeckte SELBST, wie neu das alles so war und was es alles so an Möglichkeiten gab.
Diese Zeit kommt NIE zurück!
Damals lasen die Einsteiger ins Rollenspiel viel mehr. Praktisch JEDER der damals noch vielen deutschen Taschenbuchverlage hatte seine Science-Fiction-TB-Reihen und viele auch noch zusätzlich ihre Fantasy-Reihen. Hinzu kamen Heftromane wie PR und Comics wie die Zack-Hefte, Pilote, Heavy Metal. Sowie Musik mit (im Nachklapp der Psychedelic-Welle) Konzept-Alben mit Fantasy-"Handlung", viel Fantasy-Cover-Art, usw.
DAS ist die damals prägende Pop-Kultur-Umfeld gewesen, aus dem sich Rollenspieler gewinnen ließen.
Das kommt NIE zurück!
Heute ist alles anders. - Nicht besser, sondern ANDERS.
Heute darf man Vertrautheit mit Fantasy in Film, Fernsehen, Computerspielen, Comics, z.T. auch noch Büchern voraussetzen. Heute ist Fantasy-Art im Alltag weit verbreitet - nicht nur auf den Plattencovern von Hippie-Schwurbel-Rock-Opern-Gruppen, sondern überall.
Die neuen Rollenspiele setzen auf einer anderen Basis auf. - Vorteil und Nachteil. - Die alten Spiele nahmen bestimmte Dinge IMPLIZIT an. Wie die Vertrautheit mit Genre-Konventionen im Sword&Sorcery-Umfeld, bei Hard-Sci-Fi, bei Horror. - Diese waren ANDERS als die in Literatur und Film heute üblicherweise anzutreffenden Versatzstücke.
Wer ein wenig mehr in das Gefühl der frühen Rollenspieler eintauchen möchte, dem seien Romane und Kurzgeschichten aus den 50ern, 60ern, 70ern empfohlen, die damals alle in einem wirklich breiten Sortiment gleichzeitig zur Auswahl standen. (Die Sci-Fi-Reihen sind ja fast alle eingegangen. Die Fantasy-Reihen wurden in die Allgemeine Reihe aufgenommen, nachdem sich die Normalo-Autoren auch immer mehr Fantasy-Stoffe gegriffen hatten.)
Trotz der Unwiederholbarkeit des Vergangenen spielt man immer noch uralte Rollenspiele nach alten Regelwerken oder zumindest in alten Spielwelten.
Die Faszination ist immer noch da - auch wenn sie anders ist, als früher. Es ist aber NICHT NUR der Wunsch etwas Unwiederholbares für kurze Zeit als Schatten den Raum betreten zu lassen, sondern es gibt ja auch (wie oben schon gesagt) bestimmte QUALITÄTEN des retro-artigen Spiels, die man nur bei wenigen neueren, in diesem Falle "old schoolig" zu nennenden Rollenspielen findet.
Diese Qualitäten fangen bei den Menschen an. Die Gruppe, die Gruppenstruktur, die Erwartungen an den Spielleiter und an die Spieler sind andere als man sie bei vielen aktuellen Rollenspielen findet. - Oftmals kommt es hier zu einem "Kulturschock".
Ein Spieler der "old schooligen" Spielweise WUSSTE damals, daß er verdammt aufpassen mußte, weil sonst sein Charakter tot wäre. Das Spiel war aufmerksamer, vorsichtiger, intensiver, weil man ja die Szenerie "durchkauen" mußte, um ja alle versteckten Hinweise auf Save-or-Die-Fallen zu erfahren. Ein popeliger Würfelwurf gegen eine entsprechend hohe DC oder ein Take-20 war damals nicht möglich.
Spielt man heute mit D&D 3E oder DSA 4 oder Midgard 4 gewohnten Spielern - auch in moderneren Regelsystemen wie Savage Worlds - auf die alte Weise, so bekommen die Spieler ungeahnte Probleme, die bislang sich eher haben "mittreiben" lassen, weil ja Encounter sauber auf die Gruppe abgestimmt waren, weil man so umständlich zu erschaffende SCs schon nicht umbringen würden, weil man die jahrelang stimmungsvoll gespielten SCs nicht durch einen blöden Ausrutscher oder Würfelpech sterben lassen würde. - Ein "Old-School"-Spielleiter macht das aber. Er wendet das an, was die Spielwelt und die Spielregeln hier hergeben. Und dann bleibt auch mal ein sehr erfahrener Charakter bei einem Save-or-Die auf der Strecke.
Diese klassische Tragik als ein Damokles-Schwert über jedem SC ist ein Grund für die hohe Spannung, ja geradezu ANSPANNUNG, mit der "old school"-iges Rollenspiel abläuft.
Spieler und Spielleiter, die diese Spielweise nicht drauf haben, werden mit einem "auf alt getrimmten" Regelwerk auf ihre aktuelle, aus 3E oder sonst was anderem gewohnte Spielweise spielen und dabei sofort über die offensichtlichen Löcher in den Regeln stolpern. - Diese Löcher waren auch damals bekannt, nur war es die AUFGABE des Spielleiters alles, was nicht explizit geregelt ist, mit ad hoc getroffenen Entscheidungen ohne den Spielfluß aufzuhalten zu regeln. Dabei gaben die alten Regelsysteme ob ihrer groben Granularität sehr oft einfache, zwar etwas abstrakte, aber durch die konkrete Erzählung ja wieder konkretisierte Regel-GRUND-Mechanismen mit, auf die man sich verlassen konnte, die eine Fülle von Entscheidungen eben nach "Präzedenz" treffen ließen.
Das ist auch ein Teil der Spielweise, die auch bei modernen Retro-Klonen notwendig ist.
Es gibt Spielleiter, die das können, die das gewohnt sind, und die mit Spielern spielen, die gewohnt sind aus knappsten Angaben auf dem Charakterbogen ein Maximum an Spieltiefe herauszuholen. - Eben "old school"-iges Spiel.
Die kommen mit den alten Regeln klar und VERZICHTEN OFT BEWUSST auf neuere Regelfassungen. (So haben wir im Verein auch AD&D-Spieler, die nie auf 3E umgestiegen sind und seit Jahren ständig weiter ihr AD&D spielen.)
Ist es überhaupt ein Retrotrend in diesem Sinne?
Es gibt schon einen Retro-Trend.
Dieser ist im Regelsystem-Sektor mehr durch Nostalgie, denn durch irgendwas anderes geprägt.
Bei den Settings ist Nostalgie und heute deutlich seltener anzutreffende Qualitäten wie die Offenheit, die gewollte Änderbarkeit in der Waage.
Bei den Abenteuern, da ist Nostalgie nicht vordringlich der Grund, sondern: Gute Schauplätze, tolle, spannungsgeladene Orte, interessante NSC-Konstellationen und die Möglichkeit viele BEDEUTSAME Entscheidungen zu treffen, sind Qualitäten, die eigentlich NIE veralten.
Alte Abenteuer und "auf alt getrimmte" gibt es in Gut, Mittel und Schlecht. - Die RICHTIG Guten, die Klassiker wie Isle of Dread oder Unter den Nebelbergen oder The Traveller Adventure sind immer noch - und unabhängig vom verwendeten Regelsystem - aktuell und interessant und spielenswert.
Es gibt aber UNABHÄNGIG von der Retro-Welle auch einen Trend zu einfacheren, der heutigen, hektischeren Zeit und ihren Anforderungen angemesseneren Regelsystemen und schnell erschließbaren Settings.
Hier besteht aus rein qualitativen Gründen eine gewisse Überlappung beider Trends.
Einen Trend zu den anfangs hervorgehobenen knappen Regelwerken gab (und gibt) es auch außerhalb reiner Retrosysteme.
Genau. - Nicht nur bei Regelwerken, sondern auch bei Settings. - Die Metaplot-Epidemie, der mehr als ein Jahrzehnt fast alle neuerschienenen Rollenspielsettings zum Opfer fielen, hat sich merklich abgeschwächt. Inzwischen muß man sich (zurecht) für einen eingebauten Metaplot bei den Kunden RECHTFERTIGEN. (Wer nicht einen verdammt guten Grund für einen Metaplot hat, der sollte ihn sich und - vor allem - seinen Kunden besser sparen! Siehe die Ärgerlichkeiten rund um das Ende von Engel.)
Knappere Regelwerke, offenere, leichter zugängliche Settings - das sind gewisse Anzeichen eines erst wenige Jahre in die Gänge kommenden Trends, der unter anderem auch von manchen Retro-Produkten bedient wird.
Vielleicht ist der Retrotrend also einfach ein Teil dieses größeren Trends.
Es gibt eine Schnittmenge. Retro ist aber keine Teilmenge eines Vereinfachungstrends. Bei Retro sind manche Dinge überhaupt nicht einfacher, nicht klarer, nicht zugänglicher. Diese Retro-Produkte sind eher was für die Extrem-Nostalgiker, die sich noch so verdrehte Regeln "im Original" antun, statt neuere "Verwässerungen" zu spielen.
Letztlich schert man ja mit Etiketten wie "retro", "nostalgisch", "old school", "einfach" immer viele sich in z.T. wichtigen Qualitäten stark unterscheidende Spiele, Systeme, Spielweisen und Personen über sehr wenig differenzierende Kämme.