AW: Die "Jack in all Trades"-Zwangsneurose
AlbertvS schrieb:
Ich kenn das Problem und muss dir ganz ehrlich sagen das ich bestimmte dinge einfach als Bekannt und möglich vorraussetze,
Tue ich auch. Manche Regelsysteme haben das auch bereits eingebaut. In HeroQuest ist ein Schlüsselwort "Heortling" ausreichend alles, ALLES! abzudecken, was ein Charakter aus der Volksgruppe der Heortlings kennen und können sollte. Er weiß um die üblichen Vorgehensweisen beim Bestellen der Felder, die in seiner Kultur üblichen Tabus, Rechte, Pflichten, usw. ohne daß dazu 200 Fertigkeiten feinster Granularität aufgeführt werden müssen. Was den Charakter charakterisiert (sic) sind die Fertigkeiten, die Eigenschaften, die Kenntnisse, in denen er vom Üblichen ABWEICHT. - Anderes Konzept: statt Schlüsselworte verwendet Savage Worlds das Konzept des "Common Knowledge", was soviel heißt, wie "Dein Charakter kann und weiß alles, was zu seinem - im Charakterkonzept geschilderten - Hintergrund gehört (und nicht in den 18 sehr breit angelegten Skills abgedeckt ist)." Common Knowledge plus eine sehr überschaubare Liste an sehr breiten Fertigkeiten (nur ein Skill für alle Dinge, die man Fahren kann, nur ein Skill für alles, was mit Heilen, Medizin etc. zu tun hat, ...) machen einem die Auswahl sehr leicht. Das Problem der Überforderung vor unüberschaubaren Fertigkeitslisten mit ggf. sogar noch undurchsichtigeren Abhängigkeiten zwischen diesen Fertigkeiten ist hier von (Verlags-)Haus aus vermieden.
AlbertvS schrieb:
ich denke das jeder der in den letzten 10 ? 20 ? 30 ? Jahren in einen westlichen land die höhren Schulen besucht hat weiß wie man eine primitive (!) Nachforschung über ein thema anstelt.
Praktische Erfahrung in einem Umfeld aus lauter Akademikern (Informatiker, Physiker, Chemiker, Mathematiker) in der IT-Branche zeigen mir, daß Deine Annahme definitiv UNZUTREFFEND ist. - Man glaubt garnicht, wie schlecht es um die (eigentlich nicht sehr anspruchsvolle) Fähigkeit selbst der Bedienung einer Google-Suche bei Leuten ist, die nur wenige Jahre von der Uni im Beruf sind. Es ist wirklich niederschmetternd. - Somit ist solch eine grundsätzliche Recherche-Fähigkeit durchaus nicht der übliche Fall, sondern eine echte Ausnahmefähigkeit, die erlernt und geübt sein will.
AlbertvS schrieb:
oder das leute die in deutschland nicht die absolute Aussnahme sind auch in der Lage sein sollten Auto zu fahren, immer im Primitiven Rahmen also nicht Rennen oder verfolgungsjagten oder so.
Ich habe in direktem Familien- und Kollegenkreis reichlich Verwandte und Bekannte, die nicht autofahren können, es nie gelernt haben und es auch nicht lernen werden. Es ist zwar üblich, daß in Deutschland der Durchschnittsbürger Autofahren kann, doch ist es nicht so selten, daß jemand es nicht kann, daß man da überrascht sein sollte.
AlbertvS schrieb:
schließlich gibt es eine fähigkeit Lesen und Schreiben auch nur in solchen Settings wo Lesen und Schreiben nicht allgemeingut ist.
Und die (steigende) Zahl der Analphabeten (jeglicher Ausprägung) in Deutschland läßt dieses "schließlich" auch eher als wackeligen "Schluß" erscheinen. In Fantasy-Settings könnte man davon ausgehen, daß die Schriftkundigkeit keine allgemein verbreitete Kenntnis ist, und man daher diese gesondert erwerben muß. Aber was ist mit einem 20er-Jahre-Cthulhu-Deutschland als Setting. Meine Oma hatte 4 Klassen Volksschule, die sie besuchen durfte, wenn sie nicht auf dem Feld bei Aussaat oder Ernte helfen mußte. Wie gut sie Lesen und Schreiben konnte, das kann ich noch an ihren aufbewahrten Karten und Briefen sehen. Und ihre Schwester konnte so gut wie garnicht schreiben, aber war dafür diejenige, die gut (genug) rechnen konnte. - In den 20er Jahren war Bildung, und zwar GRUND-Bildung auch in Deutschland keine "Commodity", sondern ein teueres Gut. - Und was ist heute? Heute ist - siehe manche Beiträge hier im Forum - die Fähigkeit sich schriftlich verständlich zu machen auch nicht jedermanns Sache. Nicht jeder, der heutzutage ein elektronisch-schriftliches Medium benutzt, ist auch nur in den einfachsten Formen in der Lage sich hierin verständlich zu machen.
Von einer solchen allgemeinen Kenntnis der Schrift im Jahre 2006 in der Industrienation Bundesrepublik Deutschland ist also nicht auszugehen. Der Trend geht sogar in die Gegenrichtung.
Im Rollenspiel kann man - und sollte man - das jedoch völlig außer Acht lassen. Da ist nur interessant, ob es zum Genre, zum Setting, zum Szenario paßt, ob die Charaktere allesamt gewisse Fähigkeiten haben, oder nicht.
Wenn ich in einem Szenario in England spiele, welches viel und intensive Kommunikation mit den Einheimischen voraussetzt, dann sollten alle Charaktere, und zwar auch der südfranzösicher Maler und der deutsche Weltkriegsveteran genug Englisch sprechen, um sich für das Szenario ausreichend verständlich machen zu können. Nur wenn es beabsichtigter Teil des Szenarios ist, daß die sprachlichen Verständigungsmöglichkeiten eben gerade NICHT optimal sein sollen, dann sind solche "geschenkten" Fertigkeiten eben nicht angemessen.