Blut und Sonne [Graue Wirklichkeit 4]

Freako

Der Kriegerpoet
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'Es ist ziemlich heiß heute' dachte er, während er sich mit dem Handrücken das Blut von seiner Nase fortwischte. Nicht dass es einen Sinn gehabt hätte- es kam um einiges schneller nach als er es entfernen konnte. Sein rechtes Auge begann allmählich zuzuschwellen, und sein Rücken fühlte sich an als wäre ein Güterzug darüber gefahren.

Nun ja, er hatte es auch geradezu herausgefordert. Es war schon ein kleines Wunder gewesen, dass sie ihn noch seine Minute hatten tanzen lassen. Doch er hatte nicht gewusst, dass ihre Reaktion so heftig werden würde. Er hatte es noch genau vor sich. Craig, der schweigend, aber mit immer düsterer Mine zusah, als er eine Bewegung nach der anderen vollführte; die Zuschauer, die vor Begeisterung so aus dem Häuschen gewesen waren, dass es ihm beinahe selber Angst machte. Viele Breaker waren dort gewesen, doch er schien sie alle übertroffen zu haben.

Vielleicht war es einfach das gewesen, was ihn mit der Musik verband. Er fühlte sie in sich, wenn er tanzte, ahnte jeden Schlag, jede Pause, mit unheimlicher Sicherheit voraus und stimmte seine Tricks perfekt darauf ab.

Er wusste nicht, wie lange er schon so vernarrt in diese Musik war; schon als kleiner Junge hatte er Hiphop gehört, auf dem Plattenspieler seiner Mutter, immer heimlich, wenn sie nicht zu Hause war. Nur zu oft hatte sie ihn grün und blau geprügelt wenn sie es herausgefunden hatte, doch er hatte es stets geschafft die wenigen, zerkratzten Platten die er besaß in Sicherheit zu bringen. Sie waren alles, was er gehabt hatte.

Ein scharfer Schmerz fuhr durch seine Glieder, als er versuchte sich an der Betonmauer, gegen die sie ihn getreten hatten, aufzusetzen. Es gelang ihm erst nach einigen Versuchen, und seine Nase hörte immer noch nicht auf zu bluten. Die sonne schien unbarmherzig vom völlig blauen Himmel, und die Luft roch nach heißem Teer und stinkendem Unrat, der hier überall mehr oder weniger offen auf der Straße herumlag.

Er kannte diesen Geruch schon sein Leben lang. Es war der Geruch seiner Heimat. Der Geruch des Ghettos.

Er schrak hoch, als er schnelle Schritte hörte, die sich rasch näherten. Er wischte sich abermals mit dem Handrücken das Blut aus dem Gesicht und setzte sich unter Schmerzen etwas aufrechter hin. Sie sollten ihn nicht wie einen Hund kriechend finden. Bastarde.

Doch er erlebte eine Überraschung. Sein noch sehendes Auge- das andere war nun wirklich zugeschwollen, so dass er nichts mehr damit erkennen konnte- nahm nicht irgendeinen großen, kräftigen Kerl wahr, der gekommen war, um ihm den Rest zu geben, sondern ein Mädchen, mit einer unglaublich guten Figur, gekleidet in eine perfekt sitzende, hellblaue Jeans und eine weiße Bluse. Ihre dunkelbraunen Haare wehten, als sie um die Ecke gestürmt kam und abrupt stehen blieb, als sie ihn dort liegen sah. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, doch sie zögerte nur eine Sekunde, bevor sie auf ihn zurannte und mit wenigen Schritten bei ihm war.

Sie war wunderschön, dachte er. Sie sah aus wie ein Engel, völlig deplatziert in dieser hässlichen Gegend. Die Sonne war so heiß heute... er spürte wie sich der Schweiß von seiner Stirn mit dem Blut unter der Nase zu vermischen begann, doch er hatte nicht mehr die Kraft etwas daran zu ändern.

Sie sagte irgendetwas, doch er konnte sie nicht verstehen. Nach einem langen Blick in ihre großen, Jadegrünen Augen schlossen sich die seinen.

Doch nur für einen Augenblick. Ein Schlag traf ihn an die Wange, und sein Kopf rollte zur Seite. Unter Qualen zwang er sich, seine Augen wieder zu öffnen und sah sie an. In ihrem Gesicht stand nichts anderes als nackte Panik geschrieben. Er musste schlimm aussehen. Er versuchte zu sprechen, ihr zu sagen, dass es nicht so schlimm war... alles war besser, als dieses Mädchen so verzweifelt zu sehen. Doch er brachte nichts heraus sondern bekam stattdessen einen qualvollen Hustenanfall. Blut floss über seine Lippen.

Das Mädchen wurde bleich, doch das hinderte sie nicht daran, aus ihrer Hosentasche ein weißes Tuch herauszuholen und damit über sein Gesicht zu tupfen, um das Blut zu entfernen. Es tat so unglaublich weh, doch er hatte nicht mehr die Kraft zu schreien.

Schon nach wenigen Augenblicken war das Tuch rot und durchnässt; das Mädchen sah sich hilfesuchend um. Genau in diesem Moment ertönten weitere Schritte, und ein zweites Mädchen kam um die Ecke gelaufen. Sie stieß sofort zu ihnen und fing an heftig mit dem anderen Mädchen zu diskutieren und heftig auf ihn und die Richtung, aus der sie gekommen war zu gestikulieren.

Sie schien jedoch zu erkennen, dass die Lage hier ernst war, denn sie ließ sich neben ihm und dem Mädchen niedersinken und nahm ihr Kopftuch ab, um mit ihm das gleiche zu tun wie die Weißgekleidete zuvor. Diese saß nun daneben und sah ihn unentwegt an. Etwas an ihr war so sonderbar... waren es ihre Augen? Er konnte es nicht erkennen. Sein Blickfeld verschwamm langsam.

Ganz undeutlich konnte er nun doch einige Wortfetzen erkennen, als sie versuchte mit ihm zu sprechen.

"...passiert? Alles... ..nung? .... heißt du?"

Er hatte keine Kraft mehr, doch er nahm das letzte Bisschen das er in sich finden konnte zusammen, um zu antworten:

"Ste...ve."

Dann wurde es schwarz um ihn.
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Re: Blut und Sonne [Graue Wirklichkeit]

Schöne Fortsetzung. Liest sich mal wieder sehr gut.
 
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