Meyye sieht Tatjana eine Weile an, als diese so abwehrt, und mag sich wohl denken können, was diese gerade fühlt. Aber dann zuckt sie nur mit den Schultern. "Wie du meinst... aber wenn dir das rohe Fleisch mal zum Hals raushängt, gib mir bescheid. Hab noch Bargeld zuhause rumliegen das ich eigentlich nicht so richtig brauche... was Sterbliche sich so alles leisten, bedeutet mir wenig." sagt sie beiläufig. Tatsächlich hat sie von den 300 Mäusen, von denen sie Tatjana nie erzählen wird dass sie aus dem Verkauf der Drogen stammen, die sie bei Horst Berger gefunden hat, noch nichts ausgegeben. Miete begleicht sie auf ihre ganz spezielle Art und Weise, und die Ausgaben für Wasser und Strom sind gering; dafür reicht das Asylgeld aus, das ihr noch immer zugeschickt wird von einem Beamten, der noch nie Fragen gestellt hat wenn ein Kainit etwas von ihm wollte. Sie ist anerkannter politischer Flüchtling (geringfügige Änderungen der Wahrheit geben immer noch die solidesten Lügen ab), der in den Aktenbergen verschollen ist. Solange keiner intensiv rumwühlt, ist das eine recht bequeme Art, von dem lästigen Geldkreislauf und der Bürokratie der Menschen verschont zu bleiben.
Nur hin und wieder braucht sie Geld für einzelne besondere Sachen, eine neue Jeans etwa. Aber dafür ergeben sich Gelegenheiten. Momentan jedenfalls braucht sie kein Geld, sondern Blut. Und den Ort wo sie welches zu bekommen hofft, haben sie erreicht. Eine dunkle Mauer in der Nacht, von hinten durch die Lichter der Stadt nur rudimentär kenntlich gemacht, liegt der Grünwald vor ihnen.
Meyye macht den Mund auf und hebt die Hand, um zu sagen dass Tatjana nicht alles alleine machen muß. Aber dann bleibt sie stumm, als ihre Freundin sich schon verwandelt, und einen Schmerzenslaut nicht unterdrücken kann. "Bist du sicher, dass du das tun willst? Ich kann..." Aber wieder verstummt sie, als sie das Kläffen hört. Vielleicht ist es ja wichtig für die Wölfin, das für sie zu tun. Meyye weiß nicht ganz was sie davon halten soll... Tatjana wegen ihrer im Grunde unnötigen Tat schelten oder der Erinnerung nachgeben, die ein merkwürdiges Gefühl in ihrem Inneren wachrufen will, eines das sie lange nicht mehr verspürt hat. Aber nein, auch wenn es da ist, zeigen kann sie es auf keinen Fall. Coolheit und Toughness gehen sofort flöten, wenn sie jetzt gerührt ist. Sie überlegt kurz. Dankbarkeit ist okay.
Während die Wölfin weg ist und jagt, setzt sich Meyye auf den Boden und vertreibt sich die Zeit damit, in den nächtlichen Wald hineinzulauschen... das lenkt ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Ohren, die sie unwillkürlich betastet. Nunja, es hätte wirklich schlimmer kommen können. Die Ohren kann sie unter den Haaren verstecken, sie trägt sie sowieso ständig so. In der Disco sieht das auch niemand, wenn sie tanzt und ihre Haare wirbeln. Nur in intimen Momenten muß sie auf der Hut sein. Was solls, sie wird es schon schaffen.
Sie steht auf, als sie Tatjana herankommen hört. "Danke." sagt sie ihr und schaut zu, wie sie wieder davonläuft, bevor sie das tote Reh schräg anschaut und dann bei ihm in die Hocke geht. Die Halsschlagader ist auch hier der einfachste Punkt, um anzusetzen. Bedauern steigt in ihr auf. Sie tötet sonst ihre Beute nicht, aber wenn sie von Tierblut überhaupt etwas haben will, muß sie sowas wie ein Reh gänzlich leer trinken. "Tut mir leid, Kleines. Ich hätte auf diesen Wolf nicht losgehen sollen. Ich hätte Tati nicht anknabbern und nicht in Raserei gehen dürfen. Ich hätte verdammt nochmal heute Nacht gar nicht außer Haus gehen sollen." sagt sie leise... dann schlägt sie ihre Fänge in den Hals des Tieres, schmeckt zuerst sein Fell im Mund und dann das Blut. Nur ein schwacher Abklatsch des menschlichen, schal und lauwarm, sie muß an sich halten, es nicht auszuspucken. Aber sie trinkt.
Da das Blut in einem toten Körper nicht mehr fließt, muß die Schwerkraft nachhelfen. Nach ein wenig Überlegen hängt Meyye das Tier mit den Hinterläufen an einer Astgabel auf... 'schweißtreibend' wäre das richtige Wort für dieses Unterfangen, aber natürlich trifft auf Meyye nur die metaphorische Bedeutung zu. Dann jedoch ist es besser. So geht es auch mit den anderen beiden Rehen, die Tatjana noch anbringt. Es ist eine merkwürdige Mahlzeit, die beide da vollbringen. Es vergeht einige Zeit, bis alles beendet ist und Meyye vorschlägt, dass sie die toten Tiere (oder das, was von ihnen übrig ist) abseits des Trampelpfades mit Laub und Erde bedecken, damit nicht Waldspaziergänger beim ersten Schritt darüber stolpern.
Dann geht es zurück in die Stadt, diesmal aber nicht mehr weit. Meyye führt ihre bis auf weiteres Mitbewohnerin in den Keller des Mietsbungalows und schließt die Wohnungstür auf, nachdem sie ihr Rad an die gegenüberlegende Wand gelehnt hat. "Home, sweet home." sagt sie mit leisem Sarkasmus im Unterton und geht hinein. Es ist fraglich, ob diese Räumlichkeiten früher mal tatsächlich als Wohnung gedacht waren. Ein kurzer Gang, eine türlose Öffnung zu einer Art Stauraum mit allerlei Gerümpel (und, wie unschwer zu erkennen ist, der Elektronik aus Horst Bergers Haus!)... dann eine Tür zu einer recht mickrigen Küche (neben dem Bad eines der zwei winzigen Fenster, mit Aussicht auf die vergitterten Lichtschächte, allerdings sind die Rollladen heruntergelassen), ein Bad (also Dusche und Toilette) und schließlich Meyyes Wohn- und Schlafraum... ein Bett, eine alte und schon recht gefledderte Couch, ein Sessel der wohl zur Couch gehört und auch schon ramponiert ist, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank, zwei Kommoden. Eine Stereoanlage die auch nicht das neueste Modell ist, billige Boxen, Radiowecker, allerlei herumliegender und unaufgeräumter Krimskrams (unter dem eine Tasse auf dem Tisch, mit dem Antlitz von Brad Pitt, heraussticht, weil sie so neu aussieht).
"Gib mir das vollgeblutete Zeug... ich steck's in die Waschmaschine. Du kannst ja derweil was von mir haben. In dem Schrank da." Es gibt nur einen Kleiderschrank im Raum. Während Meyye die Sachen nach draussen bringt, wo in einem anderen Teil des Kellers wohl die Waschküche untergebracht ist, hat Tatjana das Vergnügen, sich umzusehen. Möglich, dass ihr zwei gerahmte Bilder auf der Kommode neben dem Bett auffallen, wo sie zusammen mit dem Radiowecker stehen.