AW: Mehr Regeln, besseres Spiel
Woher kommt eigentlich die Ansicht Regeln würden "dem Spiel" (im Sinn von: der Fiktion) im Wege stehen?
Kann ich - wie die anderen hier im Thread - auch nur vermuten.
Ich kenne diese Ansicht NUR und AUSSCHLIESSLICH aus einschlägigen Rollenspiel-Foren (und da auch nur von bestimmten Leuten geäußert).
Mir ist diese Ansicht VÖLLIG fremd.
Durch die gemeinsame Akzeptanz der Regeln akzeptieren doch ALLE Spielenden (Spielleiter wie Spieler), daß das, was aufgrund der Anwendung des Regelwerks an FAKTEN in der Spielwelt geschaffen wird, für alle verbindlich ist.
Und so kann der größte Evil-Overlord-NSC bei seinem theatralischen Abgang(sversuch) auch mal einen Kritischen Fehler würfeln und schmählich der Gnade der SCs ausgeliefert sein, statt sich in späteren Abenteuern als Nemesis zu profilieren. - Und der strahlende Held kann beim entscheidenden Schlag gegen das Bossmonster daneben hauen. Bei unserer D&D 4E-Testrunde so passiert - das Würfelglück war nicht mit dem Paladin und so hatte er zwar den Sieg maßgeblich vorbereitet, aber das mit seinem Leben bezahlt. Bei anderen Regeln, bei anderen Regelwerken hätte er es vielleicht überlebt. So hatte aber der letztendliche Sieg eine Note des Verlusts bekommen.
Manchmal schreiben die Würfel die SPANNENDERE Wendung der Geschichte als sich JEDER der Spieler und auch der Spielleiter das ausdenken könnte. - Klar sind manche Spieler bei erzählerisch orientierten Spielen in der Lage aus dem Stegreif überraschendste Wendungen zu fabulieren. Aber solche Spieler sind rar gesät und es ist auch nicht jedermanns Sache sich einfach einen Mißerfolg, ein Scheitern seines Charakters, seiner Identifikationsfigur "daher erzählen" zu lassen, "weil es so die bessere Story gibt".
Regeln nehmen auch den Unannehmlichkeiten des Charakterlebens (oder -sterbens) den Stachel des Ausgeliefertseins der persönlichen Willkür eines anderen Mitspielers. - Somit sind auch härtere Konsequenzen im Spiel eher akzeptabel, wenn sie von einem gemeinsam verwendeten Regelwerk durch Anwendung der Regeln entstehen.
Ist es den Vertretern dieser Meinung wirklich noch nie untergekommen, dass ein mechanisches Element ein erzählerisches inspiriert hat?
Offensichtlich nicht.
Dabei sind GERADE Rollenspiele mit Regelsystemen, die interessante Hintergrundelemente abbilden, für so etwas die Paradebeispiele. - Was alles in Deadlands aus einem Backlash eines Hucksters, ganz nach den Regeln, an Wendungen, Komplikationen, Charakterspiel resultiert, das gäbe es OHNE diese Backlash-Regeln nicht. So etwas würde sich niemand ausdenken, weil es ja nicht klar dargelegtes Setting-Element ist.
Ein Rollenspiel schafft mit Setting-Fluff und Regelmechanismen eine solide Grundlage, auf der die Phantasie und Kreativität der Spieler das Bild ihrer Charaktere, das Bild der Welt malen und alles in Bewegung setzen.
Das "weiße Blatt" ist KEIN Rollenspiel. Ohne einen Ansatzpunkt GIBT ES NICHTS, was man spielen könnte. - Wenn man "alles" spielen kann, dann spielt man eigentlich NICHTS, denn ohne Beschränkungen (und sei es das grobe Genre zu wählen), kann sich die Kreativität an nichts "reiben" und so keine Funken der Inspiration versprühen.
Das ist kreatives Vakuum.
Dass die eigene Vorstellungskraft gerade durch den Gebrach der Regeln angeregt, unterstützt und auf Spielbarkeit hin gelenkt werden soll; das scheint manchen Rollenspielern nicht bewusst zu sein.
Das ist ein bedauerlicher Mangel an Phantasie.
Ich mag z.B. zufallsbestimmte Charaktererschaffung - gerne mittels Lifepath, gerne mittels ausgedehntem Lifepath. - Das ist schon ein Spiel im Spiel. Das ist schon ROLLENSPIEL, weil man sich bei den auf Tabellen ausgewürfelten Ergebnissen mit eigener Phantasie und Kreativität ein "Warum" für die Ergebnisse einfallen läßt und die Ergebnisse miteinander vernetzt. So entfaltet sich aus einer "nackten" Zahlenreihe an Würfelwürfen ein Charakter, der NICHT vom Spieler gottgleich vorherbestimmt wurde, sondern wo der Spieler das, was die Götter des Zufalls ihm an Eigenschaften gegeben haben, mit eigener Kreativität zu einem WIRKLICH DREIDIMENSIONALEN Charakter modelliert.
Ich habe auch gute Erfahrungen mit Abenteuer-Generatoren gemacht. - Den einfachsten hätte man mit den 36-Plots von S.John Ross. Man wählt oder würfelt einen davon aus, nimmt noch einen zweiten als Komplikation und dann "meditiert" man darüber. - Heraus kommt ein cooles Szenario, das man aus eigener, UNINITIALISIERTER Kreativität nie so hinbekommen hätte, wie mithilfe dieses Kristallisationskeimes.
Epische Helden haben legendäre Erfolge und tragisches Scheitern an sich. Doch wenn mir jemand für seinen Charakter (z.B. nach Daidalos-"Nicht-Regelsystem" oder nach Arkana-"System") völlig UNMOTIVIERT Isoldes Liebestod für seinen Charakter nachstellt, dann finde ich das unglaubwürdig.
Würfelwürfe, Karten, sonstige Zufallsfaktoren und Resource-Management gepaart mit Regelanwendung ERHÖHT die Glaubwürdigkeit dessen, was gerade zu einem FAKT in der Spielwelt wird.
Wenn die Priesterin die Straßenräuber nicht "zerschmettert", sondern nach den Regeln BEKEHRT und sie dann mit einer Handvoll loyaler Gefolgsleute in die Ortschaft einzieht, statt zerschlagen und blutend sich dorthin zu schleppen, dann hat das eben schon die Geschichte geändert. Und es wurden FAKTEN geschaffen, die vielleicht anders sind, als es der Spielleiter (und auch der Spieler) gedacht hatten, aber die eine interessante(re) Geschichte erlauben.
Es ist jedoch nicht zwangsläufig so, daß "mehr Regeln" gleichbedeutend mit "besseres Spiel" ist.
Es muß heißen "mehr GUTE Regeln, besseres Spiel".
Auch Regeln können unglaubwürdige Ergebnisse erzeugen. Manche Regeln können schlichtweg in der Abwicklung JEDEN nerven und ärgern. Regeln können umständlich und der Bedeutung dessen, was geregelt wird, für die Gesamtkampagne überhaupt nicht angemessen sein.
Regeln transportieren IMMER auch ein Stück der Stimmung, des Settings. - Sogar generische Regelsysteme tun das - nur kann es sein, daß viele Settings mit Generika irgendwie "gleich schmecken", doch muß das nicht sein (vor allem nicht, wenn eine Settinganpassung etwas taugt - "gute Regeln" eben).
Taugliche Regeln sorgen für die Glaubwürdigkeit eines Settings -
vorausgesetzt man wendet sie auch an!