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13.06.1998
Ein ganz normaler Samstag in den späten Neunzigern.
Es war fast Sommer und auch wenn es noch immer ungewöhnlich warm war, so bildete sich doch endlich eine immer dichter werdende Wolkendecke über der schon seit Tagen hoffnungslos überhitzten Hansestadt. Jenny öffnete das Fenster ihrer kleinen Dachgeschoßwohnung und hoffte auf die Art wenigstens etwas frische Luft in die Zimmer zu bekommen. Doch draußen ging kein einziges Lüftchen und so blieb die unerträglich schwüle Luft unverändert feucht zwischen den Möbeln hängen.
Unbeeindruckt von derartigen Nebensächlichkeiten lehnte sich die junge Frau kurz aus dem schmalen Fenster und genoss die letzten warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Nase. Langsam verschwand der rotglühende Ball hinter dem Horizont. Es würde schon bald ein heftiges Gewitter geben, sie hatten so etwas im Radio gesagt, aber noch war es nicht so weit.
Aus den Boxen hinter ihr dröhnte lautstark Metallicas neustes Werk Reloaded, sie hatte den Silberling eben erst eingelegt, und der Spieler wechselte grade von Fuel zu The Memory Remains. Der olle Hetfield röhrte also die ersten Worte ins Mikro und genau jetzt in dieser Sekunde war das Leben schön.
Immerhin war heute ihr achtundzwanzigster Geburtstag, Thomas würde gleich aus dem Studio kommen und nach einer kleinen Geburtstagsextrarunde in den Laken würden sie zusammen aufbrechen, um sich mit ihrem Mann in Sankt Paulis berühmten Kiez Kneipen ganz ordentlich einen hinter die Binde zu kippen.
Fortune, fame
Mirror, vain
Gone insane
But the memory remains
Heavy rings on fingers wave
Another star denies the grave
See the nowhere crowd cry the nowhere tears of honor
Like the twisted vines that grow
That hide and swallow mansions whole
And dim the light of an already faded prima donna…
Gut gelaunt stieß sich Jenny von der Fensterbank ab und tanzte zu den Takten der Melodie in die Küche um sich eine große Tasse Kaffee zu gönnen. Sie hatte das kleine Schwarze bereits angezogen und als sie durch den Flur zurück ins Wohnzimmer ging, fiel ihr Blick zufrieden auf den großen Spiegel neben der Garderobe.
Sie ging auf die Dreißig zu, aber noch hatte sie einen vollkommen perfekten Körper. Und das obwohl sie sich eigentlich nicht mal große Mühe mit ihm gab. Sicher sie joggte mehr oder weniger regelmäßig und bewegte sich auch sonst gerne und viel. Zu behaupten sie würde sich für ihre Figur aber abmühen, oder gar schinden war sicherlich schamlos übertrieben.
Na ja sie aß halt nicht sehr oft. Ihre Leidenschaft galt dem Rauchen verschiedenster Dinge und dem Alkohol. Das war nicht vernünftig, dass wusste sie selber, aber Scheiße sie war jung und vollkommen ungehemmt. Der Ernst des Lebens würde noch früh genug über ihr zusammenbrechen, also warum sich jetzt nen Kopf darüber machen? Jetzt wo alles so perfekt zu laufen schien.
Zusammen mit Tom hatte sie Ink & Pain gegründet, ihren ersten eigenen Laden und er lief zu ihrer beider Erstaunen sogar verdammt gut. Nie zuvor hatten beide mehr Geld besessen. Als Friseurin hatte sie etwa achthundert Mark netto im Monat nach Hause gebracht, heute war es fast das Fünffache. Und das mit einem Job der Jenny wirkliche Freude bereitete. Nicht allein auch deshalb weil sie verdammt gut war, so gut, dass ihr Mann sich mittlerweile alleine aufs Piercen beschränkte und das Stechen alleine seiner Frau überließ. Meistens zumindest, denn es gab immer noch ein paar Machowichser die sich von einer Frau nicht in die Haut ritzen lassen wollten.
Leider waren es eben diese Typen, meistens geifernde Nazipenner, die das meiste Geld einbrachten. Ein Landser in beinahe Lebensgröße als Rückenmotiv brachte schnell mal einen Tausender extra in die dankbare Familienkasse.
Das Telefon klingelte und Jenny suchte nach dem riesigen schwarzen Ding das sich langsam unter der Bezeichnung Handy in den Köpfen der Bevölkerung festsetzte. Schrecklich, wenn man immer und überall erreichbar war. Wer konnte so etwas ernsthaft wollen? Schrecklich auch der nervtötend sonore Klingelton. Mit etwas Glück würde sich der Scheiß nicht wirklich durchsetzen. Wenn die erste Begeisterung abgeklungen war, würden die Menschen erkennen, dass das normale Haustelefon vollkommen ausreichte! Mal abgesehen davon, dass diese riesigen klobigen Dinger kaum in die Handtasche passten.
Kaum war sie drangegangen, erklang der angenehme Tenor ihres Ehemannes.
„Hey Babe, ich bin’s Tom! Hör mal ich hab hier noch nen Kunden sitzen der sich nen Prinz Albert verpassen lassen will. Scheint ihm voll wichtig zu sein und er zahlt gut!“
Jenny nickte, also nichts Wildes. In einer Stunde würde er nachkommen, spätestens.
„Ok Honey! Ich mach mich dann jetzt auf den Weg, wir sehen uns bei Barney, ja? Steve und Kathi kommen ja auch gleich dorthin, also bis dann…. Lieb dich, ach… und du verpasst nen heißen Quickie Schatz!“
Sie kicherte leise als sie sein enttäuschtes Stöhnen am anderen Ende der Leitung vernahm. Ziel, Schuss, Treffer, Versenkt!
„Das haste davon mieser Kapitalistenarsch! Bye!“
Lachend legte sie auf als auch er sich verabschiedet hatte und verdrehte die Augen, als er ihr den gewohnten Kuss durch Telefon schmatzte. Sie hasste es wenn er das tat und sie wusste, dass er es genau aus diesem Grund einfach nicht lassen konnte.
Schnell schaltete sie noch die Anlage aus, griff dann die schwere Lederjacke und verschwand nach draußen in die kommende Nacht. Was sollte sie noch lange zuhause rumsitzen wenn der einzige Grund dafür noch eine halbe Ewigkeit auf sich warten lassen würde?
Hallo Hamburg! Jenny Färber kommt und lässt es heute Nach mal ordentlich krachen, komm doch her und mach mit!
Sie lachte vergnügt, es könnte die beste Nacht ihres ganzen Lebens werden.
Und sie wurde es!
Zumindest in den ersten Stunden, denn Jenny lies mit ihren Freunden ordentlich die Sau raus. Das 'Barneys' platzte, wie fast jeden Samstag, förmlich aus allen Nähten und zwischen Marihuanadämpfen, Zigarettenqualm und Alkoholschwaden aus allerlei Schnaps und Bier hämmerten die aktuellsten Hits der norddeutschen Metalszene. Type ó Negatives- Oktober Rust, Body Counts- Born Dead, Marilyn Mansons nagelneues Werk Mechanical Animal, Tiamats- A Deeper Kind of Slumber und wie sie alle hießen, feuerten ihre harten Rhythmen und schnellen Gitarrenschläge gnadenlos und scheppernd in die feiernde Menge.
Die kleine Gruppe amüsierte sich prächtig und so bemerkte Jenny erst kurz vor Mitternacht, dass Tom sich noch immer nicht hatte blicken lassen. Da ihr Alkoholspiegel sich jedoch bereits jenseits von Gut und Böse befand und auch ihre Laune viel zu gut war, um sich über ihren gewohnt unzuverlässigen Ehemann zu ärgern, verschob die junge Frau das Problem kurzer Hand auf irgendwann am kommenden Tag.
Mittlerweile war es allerdings derartig voll geworden, dass an wirklichen Spaß nicht mehr zu denken war. Alleine der Weg zum Klo und zurück beanspruchte die Geduld und den Zeitaufwand einer halben Weltreise. Hier hieß es also entweder stur ausharren oder schlicht aufgeben, zumindest wenn man weiter Gast bei Barneys bleiben wollte.
Unmut machte sich breit und die bisher so großartige Laune drohte zu kippen.
Bevor dies geschehen konnte zog Jennifer die Handbremse und somit in einem Pulk von gut zwölf weiteren gut gelaunten Leuten irgendwann einfach von Kneipe zu Kneipe. Irgendwann landeten sie, bewaffnet mit etlichen Six- Packs Hannen Alt und diversen Dönerbrötchen, auf dem Hans Albers Platz im Schatten des namengebenden Denkmals.
Hier grölten sie die alten Hits, rauchten Pott, tranken Schnaps und ließen die guten alten Zeiten ein weiteres Mal auferstehen. Damals als sie noch jung waren, als die Welt noch ihnen gehörte und die Probleme des Alltags allein Angelegenheit der erwachsenen Spießer war.
In anderen Städten hätte eine derartig wilde Party inmitten des Zentrums bereits nach wenigen Minuten die Polizei auf den Plan gerufen. Im Sankt Pauli der Neunziger lockte derartiges nicht mal einen Hund hinter `ner Tonne hervor.
Die Zeit verging und es war bereits nach Zwei, als Jenny sich bewusst wurde, dass aus der ehemals großen Gruppe ein kleiner elitärer Haufen geworden war. Sie waren mittlerweile nur noch zu fünft. Ein schwer miteinander beschäftigtes Pärchen, ein volltrunkener Kumpel der sich schon vor einer halben Ewigkeit ins Reich der Träume verabschiedet hatte und natürlich Ben, ihr bisheriger Gesangspartner. Dieser aber gab in eben dieser Sekunde ebenfalls auf und teilte seinen halbverdauten Alkoholvorrat, so gurgelnd wie großzügig mit einem dankbar schweigenden Gebüsch.
Zeit zu gehen Darling!, dachte sie, kletterte stattdessen aber zu Hans Albers auf den Sockel. Dort angekommen kuschelte sie sich eng an seinen metallenen Leib, hob die letzte Dose des Abends und grölte den berühmtesten Hamburger Schlager aller Zeiten mit einer derartigen Inbrunst, dass selbst das wild knutschende Paar unter ihr kurz das Liebesspiel unterbrach um nachzusehen was zur Hölle die Färber jetzt wieder veranstaltete.
" ... Komm doch, liebe Kleine, sei die meine, sag' nicht nein!
Du sollst bist morgen früh um Neune meine Allerliebste sein.
Ist es dir recht, ja dann bleib' ich dir … treu bis morgens um zehn.
Hak' mich unter, wir wollen jetzt zusammen mal bummeln geh'n.
Auf der Reeperbahn nachts um halb eins, - klingeling - ob du'n Mädel hast oder hast oder auch kein's, amüsierst du dich, denn das findet sich auf der Reeperbahn nachts um halb eins. Wer noch niemals in lauschiger Nacht einen Reeperbahnbummel gemacht, ist ein armer Wicht, denn er kennt dich nicht, mein St.Pauli, St.Pauli bei Nacht!"
Unberührt von solch banaler Kritik beendete Jenny die Strophe, gab ihrem bronzenen Helden anschließend den leidenschaftlichsten Kuss seines Lebens und sprang dann wieder hinunter um gut gelaunt nach Hause zu wanken.
Ein winkender Gruß musste reichen, denn wie es aussah, hörte ihr mittlerweile sowieso niemand mehr zu.
On candystripe legs the spiderman comes
softly through the shadow of the evening sun
stealing past the windows of the blissfully dead
looking for a victim shivering in bed
Searching out fear in the gathering gloom
and suddenly a movement in the corner of the room
and there is nothing I can do when I realise with freight
that the spiderman is having me for dinner tonight...
The Cure, Lullaby
Weiter leise vor sich hin singend nahm Jenny die gewohnte Ankürzung über die Bahnschienen. Es war Sonntagmorgen, beinahe halb drei, was bedeutete, dass der nächste Zug auf dieser Trasse noch etliche Stunden auf sich warten lassen würde.
Also keinerlei Grund zur Eile.
Nicht das dies in ihrem jetzigen Zustand überhaupt möglich gewesen wäre. Erstaunt sah sie plötzlich zum Boden hinunter, hob verstehend die schmalen Augenbrauen und klopfte sie sich mental auf die eigene Schulter. Sie hatte soeben eine herausragende Erkenntnis gewonnen. Bahnschienen eigneten sich hervorragend dazu, einen Betrunkenen in der Spur zu halten, stellte sie fest. Sie hatte einige Zeit versucht auf ihnen zu balancieren und war kläglich gescheitert, aber als Hilfe beim stoischen Geradeausschreiten waren diese endlosen Metallschlangen einfach unschlagbar. Jenny kicherte leise und steckte sich zur Feier dieser großartigen Erkenntnis eine Zigarette in den Mundwinkel.
Mittlerweile hatte es zu nieseln begonnen, das erwartete Sommergewitter ließ aber noch immer auf sich warten. Die Hamburger Göre hatte als Antwort darauf den Kragen ihrer Lederjacke hochgeklappt und die klammen Hände in die Tasche gestopft. Es war empfindlich kalt geworden, fand sie. Ohne sich jedoch in ihrer guten Laune davon beeindrucken zu lassen, zog sie schlicht den Kopf etwas ein und ging stur weiter.
Still freute sie sich darauf nach Hause zu kommen und über ihren schlafenden Mann herzufallen. Der Mistkerl hatte es gewagt sie ausgerechnet an ihrem bisher wichtigsten Geburtstag zu versetzen, dafür würde er büßen. Dreimal hintereinander wenigstens, ob er das nun wollte oder nicht.
Jenny grinste verträumt und in ihrem Herzen stieg ein vertraut warmes Gefühl hoch. Sie liebte diesen Mann von ganzem Herzen, würde ihn immer lieben und niemals wieder von seiner Seite weichen. Mochte das Leben auch so beschissen sein wie es wollte, an seiner Seite würde sie lachend durch die Hölle marschieren und dem Teufel persönlich vor die ungewaschenen Füße spucken. Mit Tom an ihrer Seite war sie unbesiegbar!
Und unbeschreiblich glücklich!
"Tommiii du alter Hurensohn! Ich liiiiiiiiiebe diiiiich!", schrie sie aus Leibeskräften in den dunklen Hamburger Himmel hinein. Dieser unmissverständlichen Erklärung folgte ein schriller Schrei der seinen Weg unüberhörbar aus den tiefsten Tiefen ihres übervollen Herzens hinauf an die Oberfläche gefunden hatte. Verschmitzt lächelnd ging sie weiter, trotzdem würde sie ihn natürlich ein klein wenig leiden lassen. Wenigstens den Sonntag über, wollte sie sich in seinem schlechten Gewissen aalen. Sie war neugierig was er sich als Wiedergutmachung würde einfallen lassen? Was das anging war er recht kreativ. Bei seiner Zuverlässigkeit allerdings musste er das auch wohl sein.
Wie aus dem Nichts traf sie ein schmerzhafter Hieb in den Rücken, raubte ihr den Atem und ließ sie keuchend nach vorne auf die Bahnschwellen fallen. Noch bevor ihre Knie schmerzhaft auf den harten Boden schlugen, nahmen ihr plötzlich hervor schießende Tränen die Sicht. Sie hatte den Angreifer in keinster Weise kommen hören, ahnte aber, dass ihr nun Schlimmes bevorstand. Sie kannte diese Art von Menschen, wer eine andere Person auf diese rücksichtslose Weise angriff, hatte keinerlei Bedenken zu tun wonach auch immer ihm der Sinn stand.
Oh Gott, der Scheißkerl will mich vergewaltigen!, schoss es ihr durch den Kopf.
Grenzenlose Wut stieg in ihr hoch, das war verdammt nochmal ihr dreißigster Geburtstag, dass konnte der doch nicht einfach so machen. Das war einfach nicht fair! Jennys Gedanken überschlugen sich. Sie und Tom waren eine bekannte Größe in der Straßenszene und die Wahrscheinlichkeit, dass sie diesen notgeilen Mistkerl persönlich kannte, daher nicht grade gering. Was also konnte sie ihm sagen das er von ihr abließ? In der aufkeimenden Panik konnte sie jedoch keinen klaren Gedanken fassen. Es half nichts, sie musste zuerst sehen mit wem sie es hier überhaupt zu tun hatte.
Soweit kam es jedoch nie.
Noch bevor Jenny auch nur zu der geringsten Handlung fähig war, griff eine brutale Hand in ihr Haar und riss ihren Kopf nach hinten, gleichzeitig drückte sie ein weiterer Tritt endgültig zu Boden. Wer immer hier sein Spielchen mit ihr spielte, er verstand sein Handwerk. Panik stieg in der betrunkenen jungen Frau auf, urplötzlich erkannte sie, dass sie dem Angreifer vollkommen hilflos ausgeliefert war.
"Bitte..." stieß Jenny hervor und ihre Stimme zitterte nun vor Angst und Schmerzen. "Bitte, ich..."
Als nächstes spürte sie einen weiteren brennenden Schmerz an ihrem Hals. Hatte der Scheißkerl sie grade tatsächlich gebissen? Was war das denn für ein Typ? Ja sicher, bei ihrem Glück durfte es natürlich nicht einfach nur ein mieser Vergewaltiger sein, für sie hatte das Schicksal natürlich einen der ganz perversen ausgesucht. Wie konnte es auch anders sein?
Ein seltsames Gefühl des Wohlgefallens stieg in ihr hoch und verwirrte ihren durch Alkohol und Drogen sowieso schon vernebelten Geist nur noch weiter. Lust und Leidenschaft breiteten sich in ihrem Körper aus und verloren sich in der Mitte ihres Körpers.
Was ist hier nur los? Oh bitte, ihr Götter... Nein, nein, nein...
Verzweifelt kämpfte sie gegen jedes positive Gefühl an, woher auch sollte sie wissen das diese Reaktion ein vollkommen natürlicher Teil der kainitischen Nahrungsaufnahme war.
Sie gehörte alleine ihrem Tom und nur er sollte ihr bis zu ihrem Tod diese Art von Gefühlen schenken. Wieso erzeugte dieser Angriff dann diese seltsamen Empfindungen? Scheiße, der Kerl hatte ihr in den Hals gebissen, ihr mit einem brutalen Hieb fast das Rückrad gebrochen, ihr fast das Genick gebrochen und Gott weiß was noch alles mit ihr angestellt. Warum nur konnte sie diesen Arsch dann nicht einfach hassen? Die Gedanken verloren sich und Jenny spürte wie sie ihre Kräfte verließen. Irgendwann ergab sie sich ihrem Schicksal, gab jede Form der sowieso nutzlosen Gegenwehr auf und schloss resignierend die Augen.
Ich sterbe, so fühlt sich das also an! Bitte nein, ich, ich will nicht...
Gandenvolle Schwärze legte sich über ihren Geist und sie versank im weiten Meer endlosen Vergessens...
"Njaaargh!"
Der Schrei der sich aus ihrer Kehle empor arbeitete, blieb auf halbem Wege stecken und verlor sich in einem haltlosen Hustenanfall. Unfähig sich auch nur im Mindesten zu rühren, versuchte sich Jennifer an die vergangenen Momente zu erinnern. Nur langsam und bruchstückhaft kehrten die Erinnerungen zurück.
Jemand hatte sie überfallen, ihr schrecklich weh getan, aber warum? Vergewaltigt hatte man sie auf jeden Fall nicht, sie spürte den Stoff ihrer Bekleidung am Körper. Alles war dort wo es hingehörte und auch ihre ureigenst weibliche Zone fühlte sich beruhigend unberührt an. Weiterhin still daliegend, horchte sie auf irgendwelche schrillen Nervensignale die eine schlimme Verletzung meldeten, aber auch hier ließ sich nichts Negatives feststellen. Das einzige was ihr auffiel, war ein sehr unangenehmes Kratzen in ihrem Hals und ein überdeutliches Hungergefühl.
Stöhnend grub sie ihre Hände in den Kies und stemmte sich hoch in die Hocke. Mit fahrigen Händen fingerte sie eine Zigarette aus der Schachtel ihrer Innentasche und entzündete sie. Das heißt sie versuchte es, denn der Glimmstängel fing trotz des gut gefüllten Zippo Feuerzeugs erst nach dem vierten Versuch Feuer. Sie zitterte zwischendurch sogar so sehr, dass sie aus purer Verzweifelung beinahe alles einfach fallen lassen hatte.
Was zur Hölle war denn dann nur passiert? Jenny kontrollierte ihr Portemonnaie und ihre anderen Wertsachen. Aber auch dort war alles an seinem Platz.
Beinahe nebenbei stellte sie fest, dass die Zigarette grauenhaft schmeckte, bereits nach dem zweiten Zug feuerte sie die geschundene junge Frau in die Gleise. Dabei kam ihr ein Gedanke, wie spät war es eigentlich? Sie sah nach und bekam einen Schreck, es war bereits weit nach vier Uhr. Jennifer war sich nicht sicher, aber sie musste gut zwei Stunden hier gelegen haben, was hatte dieser Dreckskerl in der Zwischenzeit nur alles mit ihr angestellt?
Drogen? Wäre zumindest eine Erklärung und ein Umstand mit dem sie leben konnte. Auch wenn es etwas abwegig, beruhigte sie dieser Gedanke ungemein. Mit Drogen konnte sie leben…
Vielleicht wollte der Angreifer sie mit irgendeiner chemischen Substanz ausschalten und sie dann entführen? Irgendetwas musste ihn dann gestört haben, so dass er fliehen musste. Ja das war eine gute Lösung, eine noch beruhigendere Lösung!
Mühsam erhob sie sich vollends, sie wollte jetzt nur noch eines, nach Hause zu Tom ins Bett und dort dann einfach alles vergessen.
Der restliche Weg zu ihrer Wohnung verlief wie in Trance und noch Jahre später sollte sich die junge Hamburgerin nicht mehr an die verworrenen Augenblicke des Heimweges erinnern können. Irgendwann aber kam sie schließlich zu Hause an. Ohne ein Wort zu verlieren zog sie sich aus und kroch zu Tom ins Bett, glücklicherweise hatte er die Jalousien heruntergezogen, sie würde also wenigstens ausschlafen können ohne das ihr gleich schon wieder die aufgehende Sonne um die Nase tanzte.
Tom!
Jenny schmiegte sich so eng an ihren geliebten Mann wie es ihr nur möglich war, irgendwie war ihr noch immer furchtbar kalt und seine Wärme hatte etwas beruhigend vertrautes. Wie in ihren ersten verliebten Nächten grub sie ihre Nase in sein Haar damit sie seine Nähe nicht nur fühlen, sondern auch riechen konnte. Der Duft war einfach wunderbar, Tom hatte nie besser gerochen. Es war als könnte sie die Kraft und das Leben in seinem Körper allein durch ihre Nase einfangen. Es war einfach wunderbar.
Schrecklicher, unbeschreiblich gieriger Hunger stieg in Jennifer auf, ein Hunger wie sie ihn nie zuvor erlebt hatte. Er allein bestimmte ihr komplettes denken, bevor sie diesem unglaublich starken Drang jedoch nachgeben konnte, schlief sie ein.
Dachte sie…
Ein ganz normaler Samstag in den späten Neunzigern.
Es war fast Sommer und auch wenn es noch immer ungewöhnlich warm war, so bildete sich doch endlich eine immer dichter werdende Wolkendecke über der schon seit Tagen hoffnungslos überhitzten Hansestadt. Jenny öffnete das Fenster ihrer kleinen Dachgeschoßwohnung und hoffte auf die Art wenigstens etwas frische Luft in die Zimmer zu bekommen. Doch draußen ging kein einziges Lüftchen und so blieb die unerträglich schwüle Luft unverändert feucht zwischen den Möbeln hängen.
Unbeeindruckt von derartigen Nebensächlichkeiten lehnte sich die junge Frau kurz aus dem schmalen Fenster und genoss die letzten warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Nase. Langsam verschwand der rotglühende Ball hinter dem Horizont. Es würde schon bald ein heftiges Gewitter geben, sie hatten so etwas im Radio gesagt, aber noch war es nicht so weit.
Aus den Boxen hinter ihr dröhnte lautstark Metallicas neustes Werk Reloaded, sie hatte den Silberling eben erst eingelegt, und der Spieler wechselte grade von Fuel zu The Memory Remains. Der olle Hetfield röhrte also die ersten Worte ins Mikro und genau jetzt in dieser Sekunde war das Leben schön.
Immerhin war heute ihr achtundzwanzigster Geburtstag, Thomas würde gleich aus dem Studio kommen und nach einer kleinen Geburtstagsextrarunde in den Laken würden sie zusammen aufbrechen, um sich mit ihrem Mann in Sankt Paulis berühmten Kiez Kneipen ganz ordentlich einen hinter die Binde zu kippen.
Fortune, fame
Mirror, vain
Gone insane
But the memory remains
Heavy rings on fingers wave
Another star denies the grave
See the nowhere crowd cry the nowhere tears of honor
Like the twisted vines that grow
That hide and swallow mansions whole
And dim the light of an already faded prima donna…
Gut gelaunt stieß sich Jenny von der Fensterbank ab und tanzte zu den Takten der Melodie in die Küche um sich eine große Tasse Kaffee zu gönnen. Sie hatte das kleine Schwarze bereits angezogen und als sie durch den Flur zurück ins Wohnzimmer ging, fiel ihr Blick zufrieden auf den großen Spiegel neben der Garderobe.
Sie ging auf die Dreißig zu, aber noch hatte sie einen vollkommen perfekten Körper. Und das obwohl sie sich eigentlich nicht mal große Mühe mit ihm gab. Sicher sie joggte mehr oder weniger regelmäßig und bewegte sich auch sonst gerne und viel. Zu behaupten sie würde sich für ihre Figur aber abmühen, oder gar schinden war sicherlich schamlos übertrieben.
Na ja sie aß halt nicht sehr oft. Ihre Leidenschaft galt dem Rauchen verschiedenster Dinge und dem Alkohol. Das war nicht vernünftig, dass wusste sie selber, aber Scheiße sie war jung und vollkommen ungehemmt. Der Ernst des Lebens würde noch früh genug über ihr zusammenbrechen, also warum sich jetzt nen Kopf darüber machen? Jetzt wo alles so perfekt zu laufen schien.
Zusammen mit Tom hatte sie Ink & Pain gegründet, ihren ersten eigenen Laden und er lief zu ihrer beider Erstaunen sogar verdammt gut. Nie zuvor hatten beide mehr Geld besessen. Als Friseurin hatte sie etwa achthundert Mark netto im Monat nach Hause gebracht, heute war es fast das Fünffache. Und das mit einem Job der Jenny wirkliche Freude bereitete. Nicht allein auch deshalb weil sie verdammt gut war, so gut, dass ihr Mann sich mittlerweile alleine aufs Piercen beschränkte und das Stechen alleine seiner Frau überließ. Meistens zumindest, denn es gab immer noch ein paar Machowichser die sich von einer Frau nicht in die Haut ritzen lassen wollten.
Leider waren es eben diese Typen, meistens geifernde Nazipenner, die das meiste Geld einbrachten. Ein Landser in beinahe Lebensgröße als Rückenmotiv brachte schnell mal einen Tausender extra in die dankbare Familienkasse.
Das Telefon klingelte und Jenny suchte nach dem riesigen schwarzen Ding das sich langsam unter der Bezeichnung Handy in den Köpfen der Bevölkerung festsetzte. Schrecklich, wenn man immer und überall erreichbar war. Wer konnte so etwas ernsthaft wollen? Schrecklich auch der nervtötend sonore Klingelton. Mit etwas Glück würde sich der Scheiß nicht wirklich durchsetzen. Wenn die erste Begeisterung abgeklungen war, würden die Menschen erkennen, dass das normale Haustelefon vollkommen ausreichte! Mal abgesehen davon, dass diese riesigen klobigen Dinger kaum in die Handtasche passten.
Kaum war sie drangegangen, erklang der angenehme Tenor ihres Ehemannes.
„Hey Babe, ich bin’s Tom! Hör mal ich hab hier noch nen Kunden sitzen der sich nen Prinz Albert verpassen lassen will. Scheint ihm voll wichtig zu sein und er zahlt gut!“
Jenny nickte, also nichts Wildes. In einer Stunde würde er nachkommen, spätestens.
„Ok Honey! Ich mach mich dann jetzt auf den Weg, wir sehen uns bei Barney, ja? Steve und Kathi kommen ja auch gleich dorthin, also bis dann…. Lieb dich, ach… und du verpasst nen heißen Quickie Schatz!“
Sie kicherte leise als sie sein enttäuschtes Stöhnen am anderen Ende der Leitung vernahm. Ziel, Schuss, Treffer, Versenkt!
„Das haste davon mieser Kapitalistenarsch! Bye!“
Lachend legte sie auf als auch er sich verabschiedet hatte und verdrehte die Augen, als er ihr den gewohnten Kuss durch Telefon schmatzte. Sie hasste es wenn er das tat und sie wusste, dass er es genau aus diesem Grund einfach nicht lassen konnte.
Schnell schaltete sie noch die Anlage aus, griff dann die schwere Lederjacke und verschwand nach draußen in die kommende Nacht. Was sollte sie noch lange zuhause rumsitzen wenn der einzige Grund dafür noch eine halbe Ewigkeit auf sich warten lassen würde?
Hallo Hamburg! Jenny Färber kommt und lässt es heute Nach mal ordentlich krachen, komm doch her und mach mit!
Sie lachte vergnügt, es könnte die beste Nacht ihres ganzen Lebens werden.
Und sie wurde es!
Zumindest in den ersten Stunden, denn Jenny lies mit ihren Freunden ordentlich die Sau raus. Das 'Barneys' platzte, wie fast jeden Samstag, förmlich aus allen Nähten und zwischen Marihuanadämpfen, Zigarettenqualm und Alkoholschwaden aus allerlei Schnaps und Bier hämmerten die aktuellsten Hits der norddeutschen Metalszene. Type ó Negatives- Oktober Rust, Body Counts- Born Dead, Marilyn Mansons nagelneues Werk Mechanical Animal, Tiamats- A Deeper Kind of Slumber und wie sie alle hießen, feuerten ihre harten Rhythmen und schnellen Gitarrenschläge gnadenlos und scheppernd in die feiernde Menge.
Die kleine Gruppe amüsierte sich prächtig und so bemerkte Jenny erst kurz vor Mitternacht, dass Tom sich noch immer nicht hatte blicken lassen. Da ihr Alkoholspiegel sich jedoch bereits jenseits von Gut und Böse befand und auch ihre Laune viel zu gut war, um sich über ihren gewohnt unzuverlässigen Ehemann zu ärgern, verschob die junge Frau das Problem kurzer Hand auf irgendwann am kommenden Tag.
Mittlerweile war es allerdings derartig voll geworden, dass an wirklichen Spaß nicht mehr zu denken war. Alleine der Weg zum Klo und zurück beanspruchte die Geduld und den Zeitaufwand einer halben Weltreise. Hier hieß es also entweder stur ausharren oder schlicht aufgeben, zumindest wenn man weiter Gast bei Barneys bleiben wollte.
Unmut machte sich breit und die bisher so großartige Laune drohte zu kippen.
Bevor dies geschehen konnte zog Jennifer die Handbremse und somit in einem Pulk von gut zwölf weiteren gut gelaunten Leuten irgendwann einfach von Kneipe zu Kneipe. Irgendwann landeten sie, bewaffnet mit etlichen Six- Packs Hannen Alt und diversen Dönerbrötchen, auf dem Hans Albers Platz im Schatten des namengebenden Denkmals.
Hier grölten sie die alten Hits, rauchten Pott, tranken Schnaps und ließen die guten alten Zeiten ein weiteres Mal auferstehen. Damals als sie noch jung waren, als die Welt noch ihnen gehörte und die Probleme des Alltags allein Angelegenheit der erwachsenen Spießer war.
In anderen Städten hätte eine derartig wilde Party inmitten des Zentrums bereits nach wenigen Minuten die Polizei auf den Plan gerufen. Im Sankt Pauli der Neunziger lockte derartiges nicht mal einen Hund hinter `ner Tonne hervor.
Die Zeit verging und es war bereits nach Zwei, als Jenny sich bewusst wurde, dass aus der ehemals großen Gruppe ein kleiner elitärer Haufen geworden war. Sie waren mittlerweile nur noch zu fünft. Ein schwer miteinander beschäftigtes Pärchen, ein volltrunkener Kumpel der sich schon vor einer halben Ewigkeit ins Reich der Träume verabschiedet hatte und natürlich Ben, ihr bisheriger Gesangspartner. Dieser aber gab in eben dieser Sekunde ebenfalls auf und teilte seinen halbverdauten Alkoholvorrat, so gurgelnd wie großzügig mit einem dankbar schweigenden Gebüsch.
Zeit zu gehen Darling!, dachte sie, kletterte stattdessen aber zu Hans Albers auf den Sockel. Dort angekommen kuschelte sie sich eng an seinen metallenen Leib, hob die letzte Dose des Abends und grölte den berühmtesten Hamburger Schlager aller Zeiten mit einer derartigen Inbrunst, dass selbst das wild knutschende Paar unter ihr kurz das Liebesspiel unterbrach um nachzusehen was zur Hölle die Färber jetzt wieder veranstaltete.
" ... Komm doch, liebe Kleine, sei die meine, sag' nicht nein!
Du sollst bist morgen früh um Neune meine Allerliebste sein.
Ist es dir recht, ja dann bleib' ich dir … treu bis morgens um zehn.
Hak' mich unter, wir wollen jetzt zusammen mal bummeln geh'n.
Auf der Reeperbahn nachts um halb eins, - klingeling - ob du'n Mädel hast oder hast oder auch kein's, amüsierst du dich, denn das findet sich auf der Reeperbahn nachts um halb eins. Wer noch niemals in lauschiger Nacht einen Reeperbahnbummel gemacht, ist ein armer Wicht, denn er kennt dich nicht, mein St.Pauli, St.Pauli bei Nacht!"
Unberührt von solch banaler Kritik beendete Jenny die Strophe, gab ihrem bronzenen Helden anschließend den leidenschaftlichsten Kuss seines Lebens und sprang dann wieder hinunter um gut gelaunt nach Hause zu wanken.
Ein winkender Gruß musste reichen, denn wie es aussah, hörte ihr mittlerweile sowieso niemand mehr zu.
On candystripe legs the spiderman comes
softly through the shadow of the evening sun
stealing past the windows of the blissfully dead
looking for a victim shivering in bed
Searching out fear in the gathering gloom
and suddenly a movement in the corner of the room
and there is nothing I can do when I realise with freight
that the spiderman is having me for dinner tonight...
The Cure, Lullaby
Weiter leise vor sich hin singend nahm Jenny die gewohnte Ankürzung über die Bahnschienen. Es war Sonntagmorgen, beinahe halb drei, was bedeutete, dass der nächste Zug auf dieser Trasse noch etliche Stunden auf sich warten lassen würde.
Also keinerlei Grund zur Eile.
Nicht das dies in ihrem jetzigen Zustand überhaupt möglich gewesen wäre. Erstaunt sah sie plötzlich zum Boden hinunter, hob verstehend die schmalen Augenbrauen und klopfte sie sich mental auf die eigene Schulter. Sie hatte soeben eine herausragende Erkenntnis gewonnen. Bahnschienen eigneten sich hervorragend dazu, einen Betrunkenen in der Spur zu halten, stellte sie fest. Sie hatte einige Zeit versucht auf ihnen zu balancieren und war kläglich gescheitert, aber als Hilfe beim stoischen Geradeausschreiten waren diese endlosen Metallschlangen einfach unschlagbar. Jenny kicherte leise und steckte sich zur Feier dieser großartigen Erkenntnis eine Zigarette in den Mundwinkel.
Mittlerweile hatte es zu nieseln begonnen, das erwartete Sommergewitter ließ aber noch immer auf sich warten. Die Hamburger Göre hatte als Antwort darauf den Kragen ihrer Lederjacke hochgeklappt und die klammen Hände in die Tasche gestopft. Es war empfindlich kalt geworden, fand sie. Ohne sich jedoch in ihrer guten Laune davon beeindrucken zu lassen, zog sie schlicht den Kopf etwas ein und ging stur weiter.
Still freute sie sich darauf nach Hause zu kommen und über ihren schlafenden Mann herzufallen. Der Mistkerl hatte es gewagt sie ausgerechnet an ihrem bisher wichtigsten Geburtstag zu versetzen, dafür würde er büßen. Dreimal hintereinander wenigstens, ob er das nun wollte oder nicht.
Jenny grinste verträumt und in ihrem Herzen stieg ein vertraut warmes Gefühl hoch. Sie liebte diesen Mann von ganzem Herzen, würde ihn immer lieben und niemals wieder von seiner Seite weichen. Mochte das Leben auch so beschissen sein wie es wollte, an seiner Seite würde sie lachend durch die Hölle marschieren und dem Teufel persönlich vor die ungewaschenen Füße spucken. Mit Tom an ihrer Seite war sie unbesiegbar!
Und unbeschreiblich glücklich!
"Tommiii du alter Hurensohn! Ich liiiiiiiiiebe diiiiich!", schrie sie aus Leibeskräften in den dunklen Hamburger Himmel hinein. Dieser unmissverständlichen Erklärung folgte ein schriller Schrei der seinen Weg unüberhörbar aus den tiefsten Tiefen ihres übervollen Herzens hinauf an die Oberfläche gefunden hatte. Verschmitzt lächelnd ging sie weiter, trotzdem würde sie ihn natürlich ein klein wenig leiden lassen. Wenigstens den Sonntag über, wollte sie sich in seinem schlechten Gewissen aalen. Sie war neugierig was er sich als Wiedergutmachung würde einfallen lassen? Was das anging war er recht kreativ. Bei seiner Zuverlässigkeit allerdings musste er das auch wohl sein.
Wie aus dem Nichts traf sie ein schmerzhafter Hieb in den Rücken, raubte ihr den Atem und ließ sie keuchend nach vorne auf die Bahnschwellen fallen. Noch bevor ihre Knie schmerzhaft auf den harten Boden schlugen, nahmen ihr plötzlich hervor schießende Tränen die Sicht. Sie hatte den Angreifer in keinster Weise kommen hören, ahnte aber, dass ihr nun Schlimmes bevorstand. Sie kannte diese Art von Menschen, wer eine andere Person auf diese rücksichtslose Weise angriff, hatte keinerlei Bedenken zu tun wonach auch immer ihm der Sinn stand.
Oh Gott, der Scheißkerl will mich vergewaltigen!, schoss es ihr durch den Kopf.
Grenzenlose Wut stieg in ihr hoch, das war verdammt nochmal ihr dreißigster Geburtstag, dass konnte der doch nicht einfach so machen. Das war einfach nicht fair! Jennys Gedanken überschlugen sich. Sie und Tom waren eine bekannte Größe in der Straßenszene und die Wahrscheinlichkeit, dass sie diesen notgeilen Mistkerl persönlich kannte, daher nicht grade gering. Was also konnte sie ihm sagen das er von ihr abließ? In der aufkeimenden Panik konnte sie jedoch keinen klaren Gedanken fassen. Es half nichts, sie musste zuerst sehen mit wem sie es hier überhaupt zu tun hatte.
Soweit kam es jedoch nie.
Noch bevor Jenny auch nur zu der geringsten Handlung fähig war, griff eine brutale Hand in ihr Haar und riss ihren Kopf nach hinten, gleichzeitig drückte sie ein weiterer Tritt endgültig zu Boden. Wer immer hier sein Spielchen mit ihr spielte, er verstand sein Handwerk. Panik stieg in der betrunkenen jungen Frau auf, urplötzlich erkannte sie, dass sie dem Angreifer vollkommen hilflos ausgeliefert war.
"Bitte..." stieß Jenny hervor und ihre Stimme zitterte nun vor Angst und Schmerzen. "Bitte, ich..."
Als nächstes spürte sie einen weiteren brennenden Schmerz an ihrem Hals. Hatte der Scheißkerl sie grade tatsächlich gebissen? Was war das denn für ein Typ? Ja sicher, bei ihrem Glück durfte es natürlich nicht einfach nur ein mieser Vergewaltiger sein, für sie hatte das Schicksal natürlich einen der ganz perversen ausgesucht. Wie konnte es auch anders sein?
Ein seltsames Gefühl des Wohlgefallens stieg in ihr hoch und verwirrte ihren durch Alkohol und Drogen sowieso schon vernebelten Geist nur noch weiter. Lust und Leidenschaft breiteten sich in ihrem Körper aus und verloren sich in der Mitte ihres Körpers.
Was ist hier nur los? Oh bitte, ihr Götter... Nein, nein, nein...
Verzweifelt kämpfte sie gegen jedes positive Gefühl an, woher auch sollte sie wissen das diese Reaktion ein vollkommen natürlicher Teil der kainitischen Nahrungsaufnahme war.
Sie gehörte alleine ihrem Tom und nur er sollte ihr bis zu ihrem Tod diese Art von Gefühlen schenken. Wieso erzeugte dieser Angriff dann diese seltsamen Empfindungen? Scheiße, der Kerl hatte ihr in den Hals gebissen, ihr mit einem brutalen Hieb fast das Rückrad gebrochen, ihr fast das Genick gebrochen und Gott weiß was noch alles mit ihr angestellt. Warum nur konnte sie diesen Arsch dann nicht einfach hassen? Die Gedanken verloren sich und Jenny spürte wie sie ihre Kräfte verließen. Irgendwann ergab sie sich ihrem Schicksal, gab jede Form der sowieso nutzlosen Gegenwehr auf und schloss resignierend die Augen.
Ich sterbe, so fühlt sich das also an! Bitte nein, ich, ich will nicht...
Gandenvolle Schwärze legte sich über ihren Geist und sie versank im weiten Meer endlosen Vergessens...
"Njaaargh!"
Der Schrei der sich aus ihrer Kehle empor arbeitete, blieb auf halbem Wege stecken und verlor sich in einem haltlosen Hustenanfall. Unfähig sich auch nur im Mindesten zu rühren, versuchte sich Jennifer an die vergangenen Momente zu erinnern. Nur langsam und bruchstückhaft kehrten die Erinnerungen zurück.
Jemand hatte sie überfallen, ihr schrecklich weh getan, aber warum? Vergewaltigt hatte man sie auf jeden Fall nicht, sie spürte den Stoff ihrer Bekleidung am Körper. Alles war dort wo es hingehörte und auch ihre ureigenst weibliche Zone fühlte sich beruhigend unberührt an. Weiterhin still daliegend, horchte sie auf irgendwelche schrillen Nervensignale die eine schlimme Verletzung meldeten, aber auch hier ließ sich nichts Negatives feststellen. Das einzige was ihr auffiel, war ein sehr unangenehmes Kratzen in ihrem Hals und ein überdeutliches Hungergefühl.
Stöhnend grub sie ihre Hände in den Kies und stemmte sich hoch in die Hocke. Mit fahrigen Händen fingerte sie eine Zigarette aus der Schachtel ihrer Innentasche und entzündete sie. Das heißt sie versuchte es, denn der Glimmstängel fing trotz des gut gefüllten Zippo Feuerzeugs erst nach dem vierten Versuch Feuer. Sie zitterte zwischendurch sogar so sehr, dass sie aus purer Verzweifelung beinahe alles einfach fallen lassen hatte.
Was zur Hölle war denn dann nur passiert? Jenny kontrollierte ihr Portemonnaie und ihre anderen Wertsachen. Aber auch dort war alles an seinem Platz.
Beinahe nebenbei stellte sie fest, dass die Zigarette grauenhaft schmeckte, bereits nach dem zweiten Zug feuerte sie die geschundene junge Frau in die Gleise. Dabei kam ihr ein Gedanke, wie spät war es eigentlich? Sie sah nach und bekam einen Schreck, es war bereits weit nach vier Uhr. Jennifer war sich nicht sicher, aber sie musste gut zwei Stunden hier gelegen haben, was hatte dieser Dreckskerl in der Zwischenzeit nur alles mit ihr angestellt?
Drogen? Wäre zumindest eine Erklärung und ein Umstand mit dem sie leben konnte. Auch wenn es etwas abwegig, beruhigte sie dieser Gedanke ungemein. Mit Drogen konnte sie leben…
Vielleicht wollte der Angreifer sie mit irgendeiner chemischen Substanz ausschalten und sie dann entführen? Irgendetwas musste ihn dann gestört haben, so dass er fliehen musste. Ja das war eine gute Lösung, eine noch beruhigendere Lösung!
Mühsam erhob sie sich vollends, sie wollte jetzt nur noch eines, nach Hause zu Tom ins Bett und dort dann einfach alles vergessen.
Der restliche Weg zu ihrer Wohnung verlief wie in Trance und noch Jahre später sollte sich die junge Hamburgerin nicht mehr an die verworrenen Augenblicke des Heimweges erinnern können. Irgendwann aber kam sie schließlich zu Hause an. Ohne ein Wort zu verlieren zog sie sich aus und kroch zu Tom ins Bett, glücklicherweise hatte er die Jalousien heruntergezogen, sie würde also wenigstens ausschlafen können ohne das ihr gleich schon wieder die aufgehende Sonne um die Nase tanzte.
Tom!
Jenny schmiegte sich so eng an ihren geliebten Mann wie es ihr nur möglich war, irgendwie war ihr noch immer furchtbar kalt und seine Wärme hatte etwas beruhigend vertrautes. Wie in ihren ersten verliebten Nächten grub sie ihre Nase in sein Haar damit sie seine Nähe nicht nur fühlen, sondern auch riechen konnte. Der Duft war einfach wunderbar, Tom hatte nie besser gerochen. Es war als könnte sie die Kraft und das Leben in seinem Körper allein durch ihre Nase einfangen. Es war einfach wunderbar.
Schrecklicher, unbeschreiblich gieriger Hunger stieg in Jennifer auf, ein Hunger wie sie ihn nie zuvor erlebt hatte. Er allein bestimmte ihr komplettes denken, bevor sie diesem unglaublich starken Drang jedoch nachgeben konnte, schlief sie ein.
Dachte sie…