Rezension Vampire: The Requiem [B!-Rezi]

Manny

Relikt
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22. Januar 2006
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Vampire: The Requiem


WoD2 Kernregelwerk


Seit der Reinkarnation der World of Darkness in neuem Gewand gibt sich White Wolf beste Mühe neue Systeme zu portieren als auch neue zu erschaffen. Das Erste nach der Kernlinie war dabei Vampire: The Requiem, übrigens auch eines der wenigen Publikationen, die Feder&Schwert unter dem Titel Vampire: Requiem noch übersetzt hatte, ehe die deutsche Übersetzung einige Zeit später ihr jähes Ende fand. Als Erstlingsgrundregelwerk im neuem Gewand hatte es natürlich vielerorts besonders schwer und wurde kritisch mit Argusaugen betrachtet. Aber Stück für Stück stößt es auf Gegenliebe.

Vampire: The Requiem ist ein neues, von Masquerade unabhängiges System. Gehenna, Kainsmythos und Konsorten müssen also zuhause bleiben. Trotzdem macht es keine 180° Drehung, Ähnlichkeiten sind nach wie vor vorhanden, sowohl in trivialen Dingen wie Namensgebung als auch viele der Eigenschaften unserer Blutsauger.

Wie schon peripher angedeutet, in diesem neuen System gibt es keinen allgemein anerkannten Kainsmythos. Um genau zu sein fehlt ein einheitlicher Mythos; manche glauben an Longinus, dem römischen Soldaten, der in die Seite Jesu stach, andere liebäugeln mit Vlad III. Ţepeş Drăculea, und wiederum andere haben sich ihre eigene Idee zusammengebraut – falls es sie überhaupt interessiert.

Fünf im Bunde
Auch abgewunken wurden Camarilla, Sabbath und Anarchen – mehr oder weniger. Anstelle der ehemaligen Zwei/Drei treten nun fünf Sekten sowie einige antagonistisch angehauchte, mysteriöse Gruppen. Die ersteren Fünf befinden sich allerdings nicht in einem ewigen, blutigen Zwist, anstelle dessen tritt nun eine unangenehme, fragile Koexistenz. Die neuen Sekten – bzw. Bünde, die sie nun genannt werden – bieten dem Spieler aber ein Eck mehr an Auswahlmöglichkeiten und natürlich auch Zündstoff für ideologisch motivierte Konflikte. Von Paganisten über Erzkatholiken, über liberale Freigeister, über Wissensbrödler bis hin zu den Ressourcenhamsterer reicht die Palette. Konkret sind es in diesem Falle: Circle of the Crone, Carthian Movement, Invictus, Lancea Sanctum und der Ordo Dracul. Für Unentschlossene gibt es hier noch die Möglichkeit einfach ohne Bund durch die Welt der Dunkelheit zu streifen, und dem Erzähler werden noch peripher andere, antagonistisch veranlagte Vereinigungen (Belial‘s Brood, VII) vorgestellt.

Ich kann es schon hören, aus der weiten Ferne, die verzweifelten und lauten „Neeeeeeeiin!“-Schreie. Keine Camarilla, kein Sabbat, kein Kain, wo soll das nur hinführen? Aber das neue System funktioniert, und wenn man sich einmal umgewöhnt hat, dann kann und wird man durchaus seinen Spaß daran finden.

Im Leichenschauhaus
Dem geneigten Neuling wird beim Öffnen des 302 Seiten langen, in rot gehaltenen Hardcover-Buches mit glänzenden Rosenblüten wird einem auch unumgänglich klar werden: auch bei den Clans wurde der Rotstift angesetzt. Insgesamt reduziert sich ihre Anzahl auf Fünf, viele davon mit einer unübersehbaren Namensgleichheit: Daeva, Gangrel, Mekhet, Nosferatu, Ventrue. Maskerade-Spieler dürften drei davon wiedererkennen – trotzdem sind sie nicht völlig identisch. In Requiem sind die Clans etwas abstrakter formuliert und freier gehalten, Gangrel leiden beispielsweise nicht mehr an plötzlich gewachsenen Kuheutern, Nosferatu sehen nicht immer zwangsläufig aus wie ein Memento an Two-Face, und Ventrue machen einen Schritt von Blaublütigkeit weg, sind jedoch anfälliger für Geistesstörungen. Die Daeva nehmen nun die Rolle der Salonlöwen ein, Mekhet fühlen sich am wohlsten unerkannt in dunklen Schatten. Aber: Schuld und Schande über mein Haupt, nun hab ich Etiketten mit der Überschrift „Stereotyp“ an die Clans geheftet. Dabei versucht Requiem deutlich die Ketten des Stereotypismus zu brechen. Diese Freiheit wird in den mehr oder weniger abstrakten Beschreibungen zu den einzelnen Clans reflektiert. Caitiff sind übrigens beinahe gänzlich ausgefallen; dennoch muss man nicht verzagen, es wird in einem der Supplements die Möglichkeit clanlosens Spiels vorgestellt.

Aber wo sind denn nun die Tremere, Ravnos, Brujah, Malkavianer, Lasombra und Konsorten? Sie sind immer noch da, nur nicht direkt als Clans. (Die Tremere finden nun übrigens ihren Einzug dort, wo sie ursprünglich herkamen, in [thread=39130]Mage: The Awakening[/thread].) Einiges lässt sich mit einer geschickten Wahl bei den fünf Bünden hinbiegen, anderes findet den Einzug über das neue Blutliniensystem. Sind Vampire bereits alt oder mächtig genug, so können sie ihrem Blut einen Schubs in die „richtige“ Richtung geben, und damit in eine neue Variation transformieren. Spielern werden sogar die Möglichkeiten freigeräumt selbst kreativ zu werden, eine eigene Blutlinie zu erschaffen und, wenn erwünscht, auch eine eigene dazugehörige Disziplin.

Ja, das ist richtig, es gibt natürlich nach wie vor Disziplinen. Hier wurde streckenweise auch noch etwas umgeschaufelt, aber vieles dürfte in den Augen und Ohren der Masquerade-Spieler sehr vertraut klingen. Einige der Bünde haben aber noch zusätzliche Kniffe, Circle of the Crone hat beispielsweise eine ganze Schiene an Ritualen, ebenso können zwei der anderen Bünde mit übernatürlichen Ritualen und Befähigungen aufwarten. Neu hingegen ist das Devotion-System, von Feder&Schwert etwas befremdlich „Verquickungen“ getauft. Dabei handelt es sich technisch gesehen um Kombinationen von Disziplinsstufen für neue Effekte. Wieder werden hier Spieler und Erzähler die Möglichkeiten gegeben selbst kreativ zu werden.

Was aber ein wenig skurril wirkt: die Clans wurden auf fünf festgenagelt, um nicht wieder eine Clansammelsurium-Hölle zu erschaffen wie in Masquerade – das „Problem“ wurde damit aber meiner Meinung nach nicht eliminiert, sondern auf die Blutlinien verlagert. Mittlerweile gibt es bereits drei Supplements, die dediziert Blutlinien behandeln, sowie welche verstreut hier und da in den anderen Büchern. Andererseits kann man das aber auch positiv sehen, die meisten der weggestrichenen Clans finden über das Blutliniensystem wie schon erwähnt wieder ihren Einzug, gelegentlich auch einfach unter einem anderen Namen. Besonders schmerzhaft sind in diesem Kontext Malkovianer; besonders diese Blutlinie im Grundregelwerk lässt die Seele bluten, aber wenigstens (oder leider – je nach Standpunkt) versuchen die Clansbücher den Umstand etwas zu korregieren, indem sie „richtige“ Malkavianer einführen.

Makrokosmos
An den Mechaniken wurde natürlich auch gefeilt. Neben den impliziten Änderungen, die aus dem übergreifenden Kernregelwerk der World of Darkness mitgenommen werden, gibt es nun auch mehr oder weniger spürbare Änderungen im Regelkatalog für Vampire. Generationen sind weggefallen und räumen Platz für Blood Potency ein, das im Gegensatz zum Vorgänger nun deutlich variabler ist und nicht nur durch Diablerie nach oben klettert. Die Starre ist nun ein einziger Albtraum, der Erinnerungen verschwimmen und verblassen lässt. Und wesentlich spürbarer: Vampire können ihre Gegenwart instinktiv wittern. Nicht nur das, in unglücklichen Fällen nimmt das Tier bei der ersten Begegnung Überhand und will dem Schwächeren an den Kragen, ein deutliches Makel des Raubtieres. Damit versucht White Wolf offenbar den bestialischen Aspekt hinter dem System zu unterstreichen – es stellt sich aber insgeheim die Frage: ist das nicht ein wenig Overkill?
Willige Ghule und die Traditionen gibt es allerdings nach wie vor, obgleich letzteres stark reduziert ist und domänenspezifisch variiert. Die Variation lässt sich daraus erklären, dass es nun keine globale(n) Sekte(n) mehr als Dach einzelner Domänen mehr gibt. Unter’m Strich steht jede Domäne für sich selbst und handelt autonom unter der Führung des jeweiligen Fürsten.

Ausblick
Nach vier Jahren Requiem gibt es natürlich schon eine Reihe an Supplements für dieses System, und weitere werden folgen. Entgegen der ursprünglichen Haltung von White Wolf gibt es nun auch Clanbücher (die übrigens auch die ersten Softcover-Bücher im System überhaupt sind), die sich aber glücklicherweise bisher als Bereicherung und nicht als Ballast herausgestellt haben.

Als in meinen Augen herausragend haben sich bisher auch Damnation City als Universalbaukasten und -wartungswerkzeug für Städte hervorkristallisiert, und Requiem for Rome liefert als erstes Supplement in der World of Darkness offizielle Vorschläge für Chroniken in der römischen Antike. Von da ist es eigentlich für Dark Ages Fans nur noch ein Katzensprung zum Mittelalter. Das, und in Requiem for Rome wird tatsächlich noch die Camarilla als Dachorganisation der Vampire vorgestellt – und ihr jähes Ende.

Fazit
Aus der verbrannten Asche der alten Welt der Dunkelheit erhebt sich wie der Phönix eine durchgestartete Welt der Dunkelheit, und damit ein durchgestartetes Vampire-System. Auch wenn vieles nun einfacher und sinniger erscheint bleibt die Frage im Raum: hat sich White Wolf damit nicht die Finger verbrannt? Es gibt zwar objektiv gesehen weniger Kritikpunkte, dennoch finden sich meiner Beobachtung nach mehr und mehr Spieler in den anderen Systemen der World of Darkness. Das kann unterschiedliche Ursachen haben: die neue World of Darkness ist nun in sich konsistent genug, dass ein Sprung zu anderen Systemen kein athletischer Spagat mehr ist, oder die neuen anderen Systeme haben Vampire in Qualität einfach überholt.

Wie dem auch sei, mit Requiem kann man nichts falsch machen. Es bietet genug Möglichkeiten für politische Dispute, zwischen denen Spieler sich wiederfinden können, und genug Spielraum für hinterhältige Erzähler, um den Horroraspekt des Spieles zu unterstreichen; die neuen Mechaniken tragen aber natürlich auch maßgeblich dazu bei.Den Artikel im Blog lesen
 
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