Rezension Spirit of the Century

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Spirit oft the Century
Pulp Rollenspiel​

Anhang anzeigen 20036Unser heutiger Review dreht sich um das Rollenspiel "Spirit of the Century", welches sich selbst als "a pulp pickup roleplaying game" versteht. Da der Begriff "Pulp" hierzulande weitgehend unbekannt ist, quäle ich die hier anwesenden zunächst einmal mit etwas (Schund-)Literaturgeschichte:

"Pulp Magazine, oft einfach nur "Pulps" genannt, waren Magazine mit Geschichten aus verschiedenen Genres, die im Amerika der 1930er bis 1950er populär waren. Das erste Pulp war Frank Munseys Argosy 1896. Die meisten der wenigen noch produzierten Pulps fallen heute in die Genres Science-Fiction und Mystery.

Der Name "Pulp" leitet sich vom billigen, holzhaltigen Papier (engl. wood pulp) ab, auf dem die Magazine gedruckt wurden. Pulp ist umgangssprachlich auch als "Schund" zu verstehen (siehe Intro des Spielfilmes "Pulp Fiction)". Pulps waren die Nachfolger der Groschenromane des 19. Jahrhunderts.

Obwohl viele respektierte Autoren für Pulps schrieben, sind die Magazine heute hauptsächlich für ihre sensationslüsternen, reißerischen Geschichten bekannt und werden als Schundliteratur bzw. Trivialliteratur abgestempelt. Pulp Cover waren berühmt für die Abbildung halbnackter junger Frauen in Bedrängnis, die auf den rettenden Helden warteten."

-Wikipedia

Im Prinzip also eine grandiose Grundlage für ein Rollenspielsetting, findet ihr nicht?
Ebenfalls sehr ausgeprägt ist der "Pickup"-Aspekt. Spirit of the Century (um meine Nerven zu schonen ab hier mit SotC abgekürzt) benutzt sehr einfache Regeln, eine rasend schnelle Charaktererschaffung und ist dank des ungewöhnlichen Systems auch Außenstehenden sehr rasch zu vermitteln.


Das Buch

Spirit of the Century wird in verschiedenen Versionen angeboten, von der preisgünstigen PDF-Version über eine Softcoverausgabe bis zu einer Print-on-Demand Hardcoverausgabe über Lulu.com. Meine Aussagen beziehen sich auf die Hardcoverversion.
Das Regelwerk umfasst 420 Seiten im 6" auf 9"-Druckformat, was in etwa mit unserem A5-Format vergleichbar ist. Die Bindung ist solide, das Papier angenehm dick. Der Druck ist in simplem Schwarz/Weiß gehalten, ohne Graustufen, das Layout ist solide und sehr angenehm zu lesen. Einige wenige Illustrationen (etwa eine pro 10 Seiten) lockern den Textfluss auf und passen erfreulicherweise auch thematisch zum auf der Seite dargebotenen Inhalt, wiederholen sich aber teilweise im späteren verlauf des Buches.


Das Setting

SotC spielt in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, also nach dem "großen Krieg". Ganz in der Tradition der Pulpvorlage ist diese Welt allerdings nur oberflächlich mit der Realen vergleichbar. Geniale Erfinder konstruieren technische Wunderwerke, finstere Kultisten suchen nach dem legendären Shangri-La oder dem versunkenen Atlantis, irrsinnige Eroberer bedrohen den neugewonnenen Frieden. Aber es ist eine optimistische Zeit, eine Zeit voller Wunder und der Gewissheit, das alle Probleme mit Mut und Wissenschaft! gelöst werden können.
Das Buch verschwendet nicht allzu viel Platz mit einer genauen Weltenbeschreibung, bietet aber eine Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse von 1901 bis 1922, und einen klaren Hinweis darauf das "Geschichte" nur dann etwas im Spiel zu suchen hat, wenn sie interessant ist. SotC ist kein "historisches" Setting. Es reflektiert nur die Welt, die in den Pulps beschrieben wird.

Einige wenige wichtige Elemente sollten noch angesprochen werden: Alle Charaktere sind Mitglieder des Century Clubs, einer Organisation von illustren Individuen die alle am 1.1.1901 geboren sind und denen Großes vorherbestimmt ist.
In der Praxis existiert der Club als Entschuldigung, woher sich die Charaktere kennen, und das vorgegebene Geburtsdatum sorgt dafür das alle Charaktere etwa gleich alt sind, was den Spielern bei der Charaktererschaffung sehr entgegen kommt. Aber dazu später. Wichtig ist nur, das die Charaktere sich kennen, und das sie allesamt Pulphelden sind, kompetent und heroisch.


Das System

SotC ist die erste Inkarnation des FATE 3.0 Regelwerkes, welches seinerseits auf den FUDGE-Regeln basiert. Es handelt sich hierbei um ein sehr simples System, das auf folgender Leiter beruht:

+8 Legendary
+7 Epic
+6 Fantastic
+5 Superb
+4 Great
+3 Good
+2 Fair
+1 Average
0 Mediocre
-1 Poor
-2 Terrible

Jeder Charakter besitzt Skills (Fähigkeiten) auf einem bestimmten Niveau, z.B. "Fists - Great". Geworfen werden stets 4DF, wobei das F für Fudgewürfel steht; hierbei handelt es sich um W6, die folgende Seiten haben: +,+,0,0,-,-. Ein + modifiziert das Ergebnis um eine Stufe nach oben, ein - um eine nach unten, die 0 oder leeren Seiten verändern nichts.

Beispiel: Mack Silver, seines Zeichens Pilot, hat vor ein defektes Triebwerk an seinem Flugboot zu reparieren. Er ist ein guter Mechaniker (+3, Good) und muss lediglich ein durchschnittliches Ergebnis zustande bekommen. Er wirft 4DF und erhält +,-,- und 0. Das Ergebnis ist "Fair" ("Good", durch den Wurf um eine Stufe nach unten reduziert) und damit besser als der benötigte Wurf. Das Triebwerk läuft wieder, und Mack schafft es vielleicht noch rechtzeitig, Jet und Sally aus den Klauen des Dr. Methuselah zu retten.

SotC verwendet eine Skillpyramide; jeder Charakter hat eine Fähigkeit auf Superb (+5), zwei auf Great, 3 auf Good, 4 auf Fair und 5 auf Average. Alle andern Fähigkeiten starten auf Mediocre (0). Da es in SotC nur insgesamt 28 Skills gibt, sind die Charaktere somit ausgesprochen kompetent.

Attribute, Vorteile und Nachteile existieren nicht; stattdessen verwendet FATE etwas, das als Aspects (Aspekte) bezeichnet wird. Aspekte sind beschreibende Teile eines Charakters, und stellen eine Mischung aus Hintergrund, Vorteil und Nachteil dar.

Einige Beispielaspekte:
Man of Iron, Dark Past, Eye of Anubis, Trained by Montcharles, Glory is Forever, Femme Fatale, "It Wasn’t My Fault", Tongo the Witch Doctor, “It Works on Paper!”

Jeder Charakter hat 10 Aspekte, und je interessanter diese sind, desto besser. "Stark" ist ein Aspekt, wenn auch ein sehr farbloser. "Stark wie ein Ochse!" ist da schon aussagekräftiger und bunter. Und "Der Mann aus Stahl!" ist ein nahezu perfektes Beispiel für einen gelungenen Aspekt.

Aspekte können von einem Charakter selbst aktiviert werden (im Regelwerk als "Tagging" bezeichnet), um ihm einen Vorteil (normalerweise +2) zu verschaffen. Dieses kostet einen Fate Point, die "Währung" des Spiels.
Aspekte können vom Spielleiter "genötigt" werden (als "Compelling" bekannt), um einen Effekt oder einen Nachteil beim Spiele auszulösen. Dieses verschafft dem Spieler einen Fate Point zur späteren Verwendung.

Als kleines Praxisbeispiel:
Baron Viktor von Hardenberg, in Fliegerkreisen auch als "der schwarze Schwan" bekannt, hat als Aspekt "schwarze Augenklappe". Er könnte diesen Aspekt aktivieren, um z.B. einen Bonus auf einen Einschüchterungsversuch zu erhalten (immerhin sieht er damit ziemlich bedrohlich aus) oder auch auf einen Verführenversuch (sie sieht ziemlich sexy aus an ihm).
Der Spielleiter könnte den Aspekt zu seinem Nachteil aktivieren, z.B. bei einem Wahrnehmungswurf, oder um eine Handlung zu erzwingen (z.B. einen verbalen Angriff auf Mack Silver, dem er dieses schmerzhafte Andenken an den großen Krieg verdankt.)

Ein weiteres Highlight des System sind die Stunts. Diese sind generell an eine Fähigkeit gebunden und erlauben es dem Besitzer, besondere Dinge zu tun.

Und wieder einmal ein Beispiel:
Der Stunt "Barnstormer" unter Pilot ermöglicht es dem Charakter, ein Flugzeug durch Passagen zu zwängen, durch die es gerade mal so passen könnte (z.B. ein Flugboot durch eine enge Häuserschlucht). Wenn er einen Fate Point investiert, dann zwängt er sein Flugzeug unbeschadet durch Passagen, durch die es definitiv nicht passen würde (z.B. durch das Stahlskelett eines im Bau befindlichen Wolkenkratzers).

Stunts decken Dinge ab wie seltene Prototypen (Düsenflugzeuge z.B.), Mooks, magische Fähigkeiten, seltene Artefakte, Kung-Fu-Kenntnisse, nützliche Kontakte und vieles mehr. Die Stunts beinhalten auch mehrere Konstruktionssysteme, namentlich solche für Fahrzeuge und Gadgets. Der Stunt "Universal Gadget" erlaubt es dem Charakter z.B. einen dringend benötigten, nützlichen Gegenstand bei sich zu haben. ("Was für ein Glück das ich meine patentierte Tiger-Abwehrtinktur einstecken hatte...").

Kämpfe laufen ähnlich ab wie normale Konflikte. Charaktere haben zwei sogenannte Stress Tracks, einen für den Körper und einen für den Geist. Diese füllen sich, wenn der Charakter Schaden nimmt (und von jemandem Eingeschüchtert werden ist hier in der Tat "geistiger Schaden"). Sobald diese Leisten voll sind, nehmen die Charaktere Consequences (Konsequenzen), und nach der 3. Konsequenz ist der Konflikt zu Ende. Konsequenzen funktionieren wie (negative) Aspekte, und können durchaus vom Gegner benutzt werden.

Ein Beispiel für Konsequenten bei einer körperlichen Auseinandersetzung wären z.B. "blutet", "gebrochener Arm" oder "hustet Blut". Der getroffene Charakter kann die Konsequenz frei wählen, solange sie im möglichen Rahmen des Konflikts liegt. Ebenso kann der Charakter nach jeder Konsequenz aufgeben; wenn sein Gegner annimmt, dann kann der Charakter die Art seiner Niederlage frei wählen. Sollte der Charakter mehr als 3 Konsequenzen erlitten haben, dann darf sein Gegner die Art der Niederlage erzählen, solange sie sich im Rahmen des Konflikts bewegt. (Verlierer von Diskussionen tendieren nun mal nicht dazu, tot umzufallen).


Abschließende Worte:
Spirit of the Century benutzt ein sehr interessantes, ziemlich freies System das weniger auf Simulationsgrundlagen, sondern mehr auf der Verteilung der Erzählrechte und der Nutzung der Umgebung des Charakters beruht. (Auch Orte können Aspekte haben, und auch diese können aktiviert und zum Vor- oder Nachteil der Beteiligten verwendet werden.)
Das Aspektsystem ist in seiner Art einzigartig und erlaubt eine unglaubliche Tiefe an Charakterdefinition mit einem Minimum an Aufwand. Überhaupt ist das System nach kürzester Eingewöhnungszeit unheimlich intuitiv und erlaubt die kreative Einbeziehung verschiedenster Elemente (Motivationen, Umwelt, Gerätschaften, Personen) in einen Konflikt.
Für Simulations-/Realismusfetischisten ist SotC definitiv das falsche Regelwerk; Ausrüstung ist bestenfalls etwas, was dem Charakter etwas mehr Farbe gibt, spielt aber keine tragende Rolle bei der Konfliktabwicklung. Es ist ein Erzählrollenspiel, und aufgrund der verwendeten Mechanismen eines, bei dem die Spieler sehr große Mitgestaltungsmöglichkeiten an der Story haben.

Ein revolutionäres System in einem handlichen Buch mit exzellenten Tipps für den Spielleiter (alleine diese rechtfertigen den Kauf!) und einer Liste von sofort verwendbaren Pulp-Archetypen, welches schon beim Lesen unheimlich Lust aufs Spielen macht.

Unter Evil Hat Productions » Spirit of the Century findet sich einiges an Previewmaterial ebenso wie Links zu den Bezugsquellen für Buch und PDF.

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Und für diejenigen unter uns, die keinen Pulp mögen: Es werden in der nächsten Zeit ein Space Opera/Fantasy und ein Horror-Rollenspiel auf der Basis von FATE 3.0 erscheinen ("Starblazer Adventures" und "The Dresden Files RPG"). Ebenso ist eine generische Ausgabe der Regeln geplant.

Ein System Reference Document auf OGL-Basis ist unter SotC SRD verfügbar.
 
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