Wellentänzer
Gott
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- 28. August 2012
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Basierend auf einer Forendiskussion habe ich mal einige Gedanken zusammengefasst. Vielleicht kann der eine oder andere ja was damit anfangen. Das würde mich freuen. Ansonsten würde es mir auch reichen, hier nun endlich mal einigermaßen zusammenhängend diverse Gedanken gesammelt aufgeschrieben zu haben. Das hilft mir bei der Sortierung. Wenn Ihr das ebenfalls nüzlich findet: umso besser! Here we go:
Man kann Spielern als Spielleiter Freiräume nehmen und Freiräume gewähren. Das Ausmaß, in dem ein SL dies tut, ist ein wichtiges Kennzeichen des Spielstiles einer Gruppe und wurde nach meinem Eindruck bislang weder hinreichend noch zusammenhängend dargestellt. Deshalb wage ich hiermit mal einen Versuch.
Während der klassische DSA-Railroader seinen Spielern tendentiell Freiheitsgrade nimmt, gewährt sie der Old-School-Dungeon-Sandboxer. Wenn man die zugrundeliegende Dimension "Gewährter Gestaltungsfreiraum" als Beschreibungsgrundlage nimmt, lassen sich meiner Ansicht nach viele Vorteile, Nachteile und am Spieltisch auftretende Phänomene gut beschreiben, erklären und vorhersagen. Deshalb finde ich eine solche Kategorisierung sinnvoll.
Ein bisschen schade ist es, dass der virtuelle Diskurs über das konkrete Ausmaß und die Verortung einer Gruppe auf der Dimension extrem schnell an seine Grenzen gerät. Spannend wird es bei der Analyse einer einzelnen Spielrunde meiner Ansicht nach nämlich genau dann, wenn man ins Detail geht. Hier mal ein paar prototypische Fragen:
Natürlich gibt es auch keine global gültige Idealbalance für Rollenspielrunden, denn dafür werden die obigen Fragen viel zu unterschiedlich von den Spielern, Gruppen, Spielpräferenzen und Rahmenbedingungen beantwortet. Die ideale Balance der Beschneidung und des Eröffnens von Freiheitsgraden durch den Spielleiter muss vielmehr abhängig von genau dieser Konstellation aus Personen, Gruppe, Spielvorlieben, vorhandenen Ressourcen und sonstigen Rahmenbedingungen gestaltet werden. Es nützt dementsprechend wenig, sich selbst - wie früher häufiger gerne geschehen - lauthals krakeelend auf dem Kontinuum von Offenheit und Geschlossenheit von Entscheidungsfreiheit zu positionieren und seine diesbezügliche Befindlichkeit dann als das Maß aller Dinge zu proklamieren
Klar kann man sich hinstellen und grandios seinen Case für das jeweilige Extrem der Skala "Gewährter Gestaltungsfreiraum" formulieren:
Extrempol 1. Der SL ist neutraler Simulator der Welt. Die Rule of Cool "entwertet" Spielerentscheidungen. Plots sind per se böse. Showdowns hat es nie zu geben. Sie passieren einfach und ergeben sich natürlich aus dem Spiel. Jegliche Verletzung von Neutralität durch den SL, ja selbst die Neigung des Spielleiters zur Förderung bestimmter Handlungs- oder Aktionsmuster trägt in sich bereits den zersetzenden Keim der Unredlichkeit. Ich halte das nach wie vor für ausgemachten Quatsch, aber das ist die - zumindest bis vor ein paar Jahren ernsthaft vorgebrachte - Extremposition der ARS-Futzies.
Extrempol 2. Demgegenüber steht die frühe DSA-Fraktion, die davon ausgeht, dass das Abenteuer an sich bereits den perfekten und nicht überbietbaren Spannungsbogen bereithält und diesen entsprechend drastisch durchsetzt. Spieler müssen folgen, gehorchen, sich unterordnen, damit das große Ganze in all seiner Herrlichkeit erstrahlen kann. Zudem herrscht die Vorstellung, dass die Spieler doch bitte am Spieltisch etwas lernen mögen, idealer Weise ethisch-moralisches Rüstzeug für die Zukunft erwerben - und wer wäre besser für entsprechende Lektionen geeignet als der wohlmeinende Diktator-SL? Das ist das andere Extrem der Skala und aus heutiger Sicht nicht minder hirnrissig.
Tatsächliche Runden bewegen sich in den allermeisten Fällen irgendwo zwischen diesen beiden Polen. Eigentlich handelt es sich bei den Extremen, wenn man es denn auf die Spitze treiben möchte, sogar nicht mehr um Rollenspiele im eigentlichen Sinne, sondern um reine Simulationen in Wargamingtradition, oftmals bar emotionalen Ausdrucks und/oder schauspielerischer Elemente einerseits (da kommt das Hobby international ja her) oder um vormalig innovative, pädagogische Instrumente zur Förderung von Kreativität, sozialer Interaktionsfähigkeit und Kommunikationsvermögen von Kindern und Jugendlichen (die DSA-Tradition nach Kiesow). Aber das führt uns direkt in die Definitionshölle dessen, was Rollenspiel eigentlich ausmacht und da will ich in diesem Beitrag ehrlicher Weise gar nicht hin.
Stattdessen könnten wir uns illustrierend mal ein Beispiel anschauen. Da taugen die weithin bekannten und geschätzten Herr Greifenklaue und Glinnefitz wunderbar, denn da kann ich mir vorstellen, wie sie präferierter Weise zumeist so spielen*:
- Eher oldschoolig
- Es darf auch mal ein Dungeon sein, gerne vielleicht sogar zwei
- Charaktere sterben desöfteren
- Ausufernde oder gar romanartige Hintergrundgeschichten der SC sind eher unerwünscht und nervig
- Zufallstabellen helfen bei der Modellierung der Welt willkommener Weise
- „Rulings not rules“ ist ein wichtiges Steuerungselement
- Herausforderung geht vor Narration
- Handlung am Spieltisch geht vor intensivem Charakterspiel
- Drama Queens als Spieler werden tendentiell als nervig angesehen
- Gefühle gibt es bei Spielern und (N)SC, aber bitte schön in Maßen und zivilisiert
- Würfel werden auf keinen Fall gedreht
Das passt hoffentlich so ungefähr. Mit diesen Vorlieben kann man selbstredend wunderbar spielen und beliebig lange sehr viel Spaß haben. Das beweisen die geschätzten Herren mit ihrem Verve und ihrer Energie ja fast täglich. Auch bin ich mir sicher, dass bei in dieser Art aktiven Gruppen etwaige Nachteile und Schwierigkeiten der skizzierten Präferenzstruktur kaum zum Tragen kommen, eben weil die Vorlieben so gestrickt sind, dass sowas gar nicht oder kaum ins Gewicht fällt. Viele Rollenspieler würden aber, da bin ich sicher, schreiend fliehen, wenn sie am Spieltisch mit derlei Praktiken konfrontiert würden. Das, und damit sind wir wieder beim Oberthema des Threads, hat meiner Ansicht nach maßgeblich auch mit dem gewährten Gestaltungsfreiraum zu tun. Es lohnt sich also, ein bisschen weiter nachzudenken.
Der Hintergrund der Idee und des Konzepts ist dabei ein historischer. Früher gab es in Deutschland eine sehr starke, DSA-beeinflusste Strömung von selbsternannten Besserspielern, die ausgesprochen abschätzig auf die oben dargestellten, klassisch zu nennenden Spielvorlieben herabgeblickt haben. Da fielen dann einerseits despektierlich gemeinte Begriffe wie "Hack´n´Slayer" oder "Powergamer" und andererseits wurden offenkundig in deren Augen positiv besetzte Aspekte wie "Atmosphäre" und "Story" und "Plot" genannt, bei deren Nennung viele Leute heute vermutlich am liebsten sofort das Weite suchen würden. Ich finde es bei näherer Betrachtung sehr erstaunlich, dass sich das Klima heute virtuell quasi komplett gedreht hat. Einen Hauptgrund dafür sehe ich in einem veränderten Idealbild dessen, was als idealer Gestaltungsfreiraum wahrgenommen wird.
Was man dabei jedoch noch aufdröseln und berücksichtigen muss, sind die negativen Sekundäreffekte der jeweiligen Strategien zum Gewähren oder Beschneiden von Gestaltungsfreiräumen. Ansonsten ist es nämlich vielen Leuten mutmaßlich nur schwer ersichtlich, weshalb am Spieltisch insbesondere auch in ambitionierten, erfahrenen und theoretisch versierten Runden ganz absichtlich eine bestimmte Balance irgendwo mitten auf dem Kontinuum der Gestaltungsfreiheit gewählt wird, weshalb also die Gruppe diverse Beschneidungen ihrer Freiheit durch den SL nicht nur zulässt, sondern sogar aktiv begrüßt.
Für das pädagogisch aufgeladene DSA-Extremrailroading sind die damit verbundenen negativen Sekundäreffekte einigermaßen offensichtlich und wurden vielerors sowie in epischer Breite dargestellt: die Spieler fühlen sich gegängelt und drangsaliert etc. Die gefürchtete „Spielleiter-Willkür“ ist mittlerweile ebenso zum geflügelten Wort geworden wie die „entwerteten“ Spielerentscheidungen (was immer das auch genau sein soll).
Für den Extrempol des neutralen Simulationismus in Reinkultur ist die Sachlage aber meiner Ansicht nach nicht ganz so offensichtlich. Vor allem sind die diesbezüglichen Risiken und Nebenwirkungen deutlich vielfältiger und schwieriger zu fassen. Hier eine Auswahl ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Horroraufwand für den SL in der Vorbereitung, nicht sinnvoll vom SL zu bewältigende Komplexität des Geschehens am Spieltisch, große Gefahr des Stillstands und der Langeweile während des Spiels, übermäßige Banalisierung des Geschehens durch Randomisierung, Orientierungslosigkeit und Gefühle der Beliebigkeit der Spieler, emotionale Unterentwicklung durch zu starke Abstrahierung des Geschehens, kognitiv-affektive Überbeanspruchung der Spieler, Unfähigkeit und Unwille des SL zur strikten Neutralität. Und so weiter. Da gibt es eine Riesenliste. Das könnte man in einem neuen Thread gerne mal etwas systematischer sammeln.
Vor diesem Hintergrund halte ich die Dimension des Gewährens und Beschneidens von Gestaltungsfreiraum durch den SL aber für eine sinnvolle Kategorie in diesem Zusammenhang. Wir verstehen dann, wieso selbst aufgeklärte Rollenspieler eben DOCH manchmal den Gestaltungsfreiraum der Spieler beschneiden und wieso bestimmte Phänomene immer mal wieder als Thema in Foren aufpoppen**.
Es ist und bleibt übrigens in Deutschland ein nicht von der Hand zu weisendes Verdienst der ARS-Bewegung, das sozial akzeptierte Spektrum von Spielstilen in Deutschland zumindest in den Online-Diskussionen erheblich erweitert zu haben***. Die ARS-Leute waren mit ihren Botschaften teilweise sogar so erfolgreich, dass sich die Diskriminierungen heutzutage häufig sogar umgekehrt haben und nun auf einmal "Railroader" häufig schwer gedisst werden, "Plots" schon mal als böseböseböse gebrandmarkt werden, jegliche auf Emotionalität zielende Hobbyausübung etwa in Gestalt von Indie-Games kategorisch abgelehnt wird ("Forge ist scheiße") und so weiter. Andererseits hat sich solch eine Extrembetrachtung ehrlicher Weise in meiner Wahrnehmung schon wieder erheblich gemäßigt und wird nur noch von einigen wenigen Extremisten und Ignoranten ernsthaft vertreten.
So nehme ich zusammenfassend den aktuellen Stand der Diskussion wahr und habe den Eindruck, dass der Drops damit weitgehend gelutscht ist. Man könnte darauf basierend nun verschiedene Dinge tun. Man könnte sich über die Dimensionalität der Vorliebenstruktur unterhalten (siehe unten). Man könnte die negativen Sekundäreffekte der Extrempole sinnvoll aufdröseln. Man könnte aber auch eine Art Gebrauchsanweisung, etwa in Form eines Tests der Vorlieben, entwickeln, um Neueinsteigern oder Umsteigern darauf basierend Systemempfehlungen auszusprechen.
Die im Zusammenhang mit dem Gewähren von Gestaltungsfreiraum drängendsten Fragen, nämlich:
- Wie unterscheiden sich Spielvorlieben?
- Nach welchen Kriterien funktioniert die Bewertung von Vorlieben?
- Welche Vor- und Nachteile gehen mit den jeweiligen Präferenzen einher?
scheinen mir mit dieser Betrachtung ganz gut geklärt. Mehr Detaillierung brauche ich persönlich jedenfalls für mein Verständnis nicht. Da sind die Geschmäcker aber selbstverständlich verschieden. Einige wollen mehr Details, anderen ist solch ein Gedankengang wie der oben skizzierte bereits erheblich zu theoretisch. Schließlich, um es mal wieder aufzugreifen: RPG ist keine Wissenschaft!
Eine kleine Bitte zum Abschluss noch: achtet doch bitte bei Kommentaren darauf, dass im Falle von Kritik erstens konstruktiv kommuniziert, zweitens ein respektvoller Ton angeschlagen und drittens von kleinteiligen OT-Diskussionen abgesehen wird. Ich habe mir große Mühe gegeben, das Thema möglichst neutral zu schildern und würde das Ding hier nur ungerne entgleisen sehen. Herzlichen Dank.
*: Jungs, bitte entschuldigt, dass ich Euch so dreist und ignorant in einen gemeinsamen Topf werfe. Natürlich weiß ich, dass Ihr wirklich VIELE verschiedene Spiele spielt sowie eine wahnsinnige Erfahrung mit allen möglichen Systemen/Gruppen/Kontexten habt. In diesem Thread verkürze ich Euch aber ganz dreist einfach mal auf Mr. Oldschool und Mr. LabyrinthLord. Ich bitte um Verzeihung und Vergebung für jegliche Unannehmlichkeiten
**: Irgendwie passt die emotional-pädagogische Komponente für mein Gefühl noch nicht so richtig zu der Dimension des gewährten Gestaltungsfreiraums. Ich würde darin tendentiell eine zweite, leicht korrelierte Dimension sehen, sowas in der Art Neutralität versus Intentionalität des SL-Handelns beispielsweise. Das hat zwar am Rande auch mit dem Gestaltungsfreiraum zu tun, aber eigentlich ist das für mein Gefühl ein weitgehend eigenständiges Thema.
***: Das Gebahren zentraler Vertreter dieser Bewegung finde ich zwar bis heute wahnsinnig abstoßend. Aber vielleicht brauchte es auch eine solche ... Chuzpe, um das Anliegen in die virtuelle Breite zu tragen. So ganz dysfunktional war das schließlich nicht.
Man kann Spielern als Spielleiter Freiräume nehmen und Freiräume gewähren. Das Ausmaß, in dem ein SL dies tut, ist ein wichtiges Kennzeichen des Spielstiles einer Gruppe und wurde nach meinem Eindruck bislang weder hinreichend noch zusammenhängend dargestellt. Deshalb wage ich hiermit mal einen Versuch.
Während der klassische DSA-Railroader seinen Spielern tendentiell Freiheitsgrade nimmt, gewährt sie der Old-School-Dungeon-Sandboxer. Wenn man die zugrundeliegende Dimension "Gewährter Gestaltungsfreiraum" als Beschreibungsgrundlage nimmt, lassen sich meiner Ansicht nach viele Vorteile, Nachteile und am Spieltisch auftretende Phänomene gut beschreiben, erklären und vorhersagen. Deshalb finde ich eine solche Kategorisierung sinnvoll.
Ein bisschen schade ist es, dass der virtuelle Diskurs über das konkrete Ausmaß und die Verortung einer Gruppe auf der Dimension extrem schnell an seine Grenzen gerät. Spannend wird es bei der Analyse einer einzelnen Spielrunde meiner Ansicht nach nämlich genau dann, wenn man ins Detail geht. Hier mal ein paar prototypische Fragen:
- Wie subtil bis brachial wird ein Plotelement denn nun durch den SL in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt?
- Wie stark lehnen sich die Spieler im Sitz zurück und lassen den SL mit seinen Ideen kommen/verhungern?
- Wie sehr fordern die Spieler aktiv ihre Rollen am Spieltisch ein?
- Wie stark definieren die Welt mit bzw. wollen sie das überhaupt?
- Wie sehr suggerieren die Spieler Fäden und Handlungsstränge über die Vorgaben und Suggestionen des SL hinaus?
- Wie sehr wird ambitioniertes Charakterspiel von der Runde gefordert und gefördert?
- Wie sieht es mit Emotionalität und dessen Herleitung und Verarbeitung am Spieltisch aus?
- Wie hängt die Mortalität der SC mit der Identifikation der Spieler in der jeweiligen Runde zusammen?
- Wird eher ein episodisches oder ein stark verknüpftes Spiel angestrebt? Werden langfristige Kampagnen oder viele OneShots präferiert?
- Wie viel Zeit haben SL und Spieler für die Vor- und Nachbereitung? Wie häufig spielt die Gruppe?
- Gibt es ein stark gepflegtes Diary?
- Wie stark unterstützt bzw. unterbindet das jeweilige System die gewünschten Balancen?
Natürlich gibt es auch keine global gültige Idealbalance für Rollenspielrunden, denn dafür werden die obigen Fragen viel zu unterschiedlich von den Spielern, Gruppen, Spielpräferenzen und Rahmenbedingungen beantwortet. Die ideale Balance der Beschneidung und des Eröffnens von Freiheitsgraden durch den Spielleiter muss vielmehr abhängig von genau dieser Konstellation aus Personen, Gruppe, Spielvorlieben, vorhandenen Ressourcen und sonstigen Rahmenbedingungen gestaltet werden. Es nützt dementsprechend wenig, sich selbst - wie früher häufiger gerne geschehen - lauthals krakeelend auf dem Kontinuum von Offenheit und Geschlossenheit von Entscheidungsfreiheit zu positionieren und seine diesbezügliche Befindlichkeit dann als das Maß aller Dinge zu proklamieren
Klar kann man sich hinstellen und grandios seinen Case für das jeweilige Extrem der Skala "Gewährter Gestaltungsfreiraum" formulieren:
Extrempol 1. Der SL ist neutraler Simulator der Welt. Die Rule of Cool "entwertet" Spielerentscheidungen. Plots sind per se böse. Showdowns hat es nie zu geben. Sie passieren einfach und ergeben sich natürlich aus dem Spiel. Jegliche Verletzung von Neutralität durch den SL, ja selbst die Neigung des Spielleiters zur Förderung bestimmter Handlungs- oder Aktionsmuster trägt in sich bereits den zersetzenden Keim der Unredlichkeit. Ich halte das nach wie vor für ausgemachten Quatsch, aber das ist die - zumindest bis vor ein paar Jahren ernsthaft vorgebrachte - Extremposition der ARS-Futzies.
Extrempol 2. Demgegenüber steht die frühe DSA-Fraktion, die davon ausgeht, dass das Abenteuer an sich bereits den perfekten und nicht überbietbaren Spannungsbogen bereithält und diesen entsprechend drastisch durchsetzt. Spieler müssen folgen, gehorchen, sich unterordnen, damit das große Ganze in all seiner Herrlichkeit erstrahlen kann. Zudem herrscht die Vorstellung, dass die Spieler doch bitte am Spieltisch etwas lernen mögen, idealer Weise ethisch-moralisches Rüstzeug für die Zukunft erwerben - und wer wäre besser für entsprechende Lektionen geeignet als der wohlmeinende Diktator-SL? Das ist das andere Extrem der Skala und aus heutiger Sicht nicht minder hirnrissig.
Tatsächliche Runden bewegen sich in den allermeisten Fällen irgendwo zwischen diesen beiden Polen. Eigentlich handelt es sich bei den Extremen, wenn man es denn auf die Spitze treiben möchte, sogar nicht mehr um Rollenspiele im eigentlichen Sinne, sondern um reine Simulationen in Wargamingtradition, oftmals bar emotionalen Ausdrucks und/oder schauspielerischer Elemente einerseits (da kommt das Hobby international ja her) oder um vormalig innovative, pädagogische Instrumente zur Förderung von Kreativität, sozialer Interaktionsfähigkeit und Kommunikationsvermögen von Kindern und Jugendlichen (die DSA-Tradition nach Kiesow). Aber das führt uns direkt in die Definitionshölle dessen, was Rollenspiel eigentlich ausmacht und da will ich in diesem Beitrag ehrlicher Weise gar nicht hin.
Stattdessen könnten wir uns illustrierend mal ein Beispiel anschauen. Da taugen die weithin bekannten und geschätzten Herr Greifenklaue und Glinnefitz wunderbar, denn da kann ich mir vorstellen, wie sie präferierter Weise zumeist so spielen*:
- Eher oldschoolig
- Es darf auch mal ein Dungeon sein, gerne vielleicht sogar zwei
- Charaktere sterben desöfteren
- Ausufernde oder gar romanartige Hintergrundgeschichten der SC sind eher unerwünscht und nervig
- Zufallstabellen helfen bei der Modellierung der Welt willkommener Weise
- „Rulings not rules“ ist ein wichtiges Steuerungselement
- Herausforderung geht vor Narration
- Handlung am Spieltisch geht vor intensivem Charakterspiel
- Drama Queens als Spieler werden tendentiell als nervig angesehen
- Gefühle gibt es bei Spielern und (N)SC, aber bitte schön in Maßen und zivilisiert
- Würfel werden auf keinen Fall gedreht
Das passt hoffentlich so ungefähr. Mit diesen Vorlieben kann man selbstredend wunderbar spielen und beliebig lange sehr viel Spaß haben. Das beweisen die geschätzten Herren mit ihrem Verve und ihrer Energie ja fast täglich. Auch bin ich mir sicher, dass bei in dieser Art aktiven Gruppen etwaige Nachteile und Schwierigkeiten der skizzierten Präferenzstruktur kaum zum Tragen kommen, eben weil die Vorlieben so gestrickt sind, dass sowas gar nicht oder kaum ins Gewicht fällt. Viele Rollenspieler würden aber, da bin ich sicher, schreiend fliehen, wenn sie am Spieltisch mit derlei Praktiken konfrontiert würden. Das, und damit sind wir wieder beim Oberthema des Threads, hat meiner Ansicht nach maßgeblich auch mit dem gewährten Gestaltungsfreiraum zu tun. Es lohnt sich also, ein bisschen weiter nachzudenken.
Der Hintergrund der Idee und des Konzepts ist dabei ein historischer. Früher gab es in Deutschland eine sehr starke, DSA-beeinflusste Strömung von selbsternannten Besserspielern, die ausgesprochen abschätzig auf die oben dargestellten, klassisch zu nennenden Spielvorlieben herabgeblickt haben. Da fielen dann einerseits despektierlich gemeinte Begriffe wie "Hack´n´Slayer" oder "Powergamer" und andererseits wurden offenkundig in deren Augen positiv besetzte Aspekte wie "Atmosphäre" und "Story" und "Plot" genannt, bei deren Nennung viele Leute heute vermutlich am liebsten sofort das Weite suchen würden. Ich finde es bei näherer Betrachtung sehr erstaunlich, dass sich das Klima heute virtuell quasi komplett gedreht hat. Einen Hauptgrund dafür sehe ich in einem veränderten Idealbild dessen, was als idealer Gestaltungsfreiraum wahrgenommen wird.
Was man dabei jedoch noch aufdröseln und berücksichtigen muss, sind die negativen Sekundäreffekte der jeweiligen Strategien zum Gewähren oder Beschneiden von Gestaltungsfreiräumen. Ansonsten ist es nämlich vielen Leuten mutmaßlich nur schwer ersichtlich, weshalb am Spieltisch insbesondere auch in ambitionierten, erfahrenen und theoretisch versierten Runden ganz absichtlich eine bestimmte Balance irgendwo mitten auf dem Kontinuum der Gestaltungsfreiheit gewählt wird, weshalb also die Gruppe diverse Beschneidungen ihrer Freiheit durch den SL nicht nur zulässt, sondern sogar aktiv begrüßt.
Für das pädagogisch aufgeladene DSA-Extremrailroading sind die damit verbundenen negativen Sekundäreffekte einigermaßen offensichtlich und wurden vielerors sowie in epischer Breite dargestellt: die Spieler fühlen sich gegängelt und drangsaliert etc. Die gefürchtete „Spielleiter-Willkür“ ist mittlerweile ebenso zum geflügelten Wort geworden wie die „entwerteten“ Spielerentscheidungen (was immer das auch genau sein soll).
Für den Extrempol des neutralen Simulationismus in Reinkultur ist die Sachlage aber meiner Ansicht nach nicht ganz so offensichtlich. Vor allem sind die diesbezüglichen Risiken und Nebenwirkungen deutlich vielfältiger und schwieriger zu fassen. Hier eine Auswahl ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Horroraufwand für den SL in der Vorbereitung, nicht sinnvoll vom SL zu bewältigende Komplexität des Geschehens am Spieltisch, große Gefahr des Stillstands und der Langeweile während des Spiels, übermäßige Banalisierung des Geschehens durch Randomisierung, Orientierungslosigkeit und Gefühle der Beliebigkeit der Spieler, emotionale Unterentwicklung durch zu starke Abstrahierung des Geschehens, kognitiv-affektive Überbeanspruchung der Spieler, Unfähigkeit und Unwille des SL zur strikten Neutralität. Und so weiter. Da gibt es eine Riesenliste. Das könnte man in einem neuen Thread gerne mal etwas systematischer sammeln.
Vor diesem Hintergrund halte ich die Dimension des Gewährens und Beschneidens von Gestaltungsfreiraum durch den SL aber für eine sinnvolle Kategorie in diesem Zusammenhang. Wir verstehen dann, wieso selbst aufgeklärte Rollenspieler eben DOCH manchmal den Gestaltungsfreiraum der Spieler beschneiden und wieso bestimmte Phänomene immer mal wieder als Thema in Foren aufpoppen**.
Es ist und bleibt übrigens in Deutschland ein nicht von der Hand zu weisendes Verdienst der ARS-Bewegung, das sozial akzeptierte Spektrum von Spielstilen in Deutschland zumindest in den Online-Diskussionen erheblich erweitert zu haben***. Die ARS-Leute waren mit ihren Botschaften teilweise sogar so erfolgreich, dass sich die Diskriminierungen heutzutage häufig sogar umgekehrt haben und nun auf einmal "Railroader" häufig schwer gedisst werden, "Plots" schon mal als böseböseböse gebrandmarkt werden, jegliche auf Emotionalität zielende Hobbyausübung etwa in Gestalt von Indie-Games kategorisch abgelehnt wird ("Forge ist scheiße") und so weiter. Andererseits hat sich solch eine Extrembetrachtung ehrlicher Weise in meiner Wahrnehmung schon wieder erheblich gemäßigt und wird nur noch von einigen wenigen Extremisten und Ignoranten ernsthaft vertreten.
So nehme ich zusammenfassend den aktuellen Stand der Diskussion wahr und habe den Eindruck, dass der Drops damit weitgehend gelutscht ist. Man könnte darauf basierend nun verschiedene Dinge tun. Man könnte sich über die Dimensionalität der Vorliebenstruktur unterhalten (siehe unten). Man könnte die negativen Sekundäreffekte der Extrempole sinnvoll aufdröseln. Man könnte aber auch eine Art Gebrauchsanweisung, etwa in Form eines Tests der Vorlieben, entwickeln, um Neueinsteigern oder Umsteigern darauf basierend Systemempfehlungen auszusprechen.
Die im Zusammenhang mit dem Gewähren von Gestaltungsfreiraum drängendsten Fragen, nämlich:
- Wie unterscheiden sich Spielvorlieben?
- Nach welchen Kriterien funktioniert die Bewertung von Vorlieben?
- Welche Vor- und Nachteile gehen mit den jeweiligen Präferenzen einher?
scheinen mir mit dieser Betrachtung ganz gut geklärt. Mehr Detaillierung brauche ich persönlich jedenfalls für mein Verständnis nicht. Da sind die Geschmäcker aber selbstverständlich verschieden. Einige wollen mehr Details, anderen ist solch ein Gedankengang wie der oben skizzierte bereits erheblich zu theoretisch. Schließlich, um es mal wieder aufzugreifen: RPG ist keine Wissenschaft!
Eine kleine Bitte zum Abschluss noch: achtet doch bitte bei Kommentaren darauf, dass im Falle von Kritik erstens konstruktiv kommuniziert, zweitens ein respektvoller Ton angeschlagen und drittens von kleinteiligen OT-Diskussionen abgesehen wird. Ich habe mir große Mühe gegeben, das Thema möglichst neutral zu schildern und würde das Ding hier nur ungerne entgleisen sehen. Herzlichen Dank.
*: Jungs, bitte entschuldigt, dass ich Euch so dreist und ignorant in einen gemeinsamen Topf werfe. Natürlich weiß ich, dass Ihr wirklich VIELE verschiedene Spiele spielt sowie eine wahnsinnige Erfahrung mit allen möglichen Systemen/Gruppen/Kontexten habt. In diesem Thread verkürze ich Euch aber ganz dreist einfach mal auf Mr. Oldschool und Mr. LabyrinthLord. Ich bitte um Verzeihung und Vergebung für jegliche Unannehmlichkeiten
**: Irgendwie passt die emotional-pädagogische Komponente für mein Gefühl noch nicht so richtig zu der Dimension des gewährten Gestaltungsfreiraums. Ich würde darin tendentiell eine zweite, leicht korrelierte Dimension sehen, sowas in der Art Neutralität versus Intentionalität des SL-Handelns beispielsweise. Das hat zwar am Rande auch mit dem Gestaltungsfreiraum zu tun, aber eigentlich ist das für mein Gefühl ein weitgehend eigenständiges Thema.
***: Das Gebahren zentraler Vertreter dieser Bewegung finde ich zwar bis heute wahnsinnig abstoßend. Aber vielleicht brauchte es auch eine solche ... Chuzpe, um das Anliegen in die virtuelle Breite zu tragen. So ganz dysfunktional war das schließlich nicht.