[06.05.2008] - Prioritäten

Eldrige

Zombie-Survival Experte
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2. März 2004
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Über manche Dinge musste man Gewissheit haben. Vieles konnte man flexibel halten, über manche Dinge konnte man sogar überhaupt gar keine feste Meinung haben, oder bildete sich erst eine, wenn es denn akut wurde. Einige, wenige Dinge aber gab es, die eindeutig geklärt sein mussten, damit die verdammte Welt sich weiter drehte. Das waren dann in der Regel auch die Dinge, für die Anderes auf der Strecke blieb.

In dieser Nacht war Rainer Weber auf der Strecke geblieben.

Zugegeben, es gab sicherlich genug Menschen, die hätten wohl mit einem betroffenem Gesicht angemerkt, dass Rainer schon vor Jahren auf der Strecke geblieben war. Unter die Räder gekommen, abgerutscht, sich hängen lassen, all das waren Dinge, die man über ihn sagen würde. Meistens kamen solche Kommentare natürlich von Leuten, die aus ihrer scheinheiligen, gut bürgerlichen Wohnstube heraus und von ihrem pseudo sicherem Wohlstands Status herab glaubten, dass sie von einer Art selbst verschuldeter Krankheit sprachen. So wie man über den jahrelangen Trinker spricht, dessen Leber versagt. 'Ja..der arme Mann...aber man hats ja kommen sehen', sagte die neugierige Nachbarin, die stets genau wusste wer wann welche Wäsche im Hof aufhing.

Rainers Geschichte war eine von vielen in Finstertal und sie endete wie so viele zuvor. Niemand würde sie wohl jemals erzählen und auch seine Kumpanei von der Straße würde ihn in ein oder zwei alkoholvernebelten Nächten vergessen haben. Rainer hatte bei der Entsorgung der Stadt gearbeitet. Ehrliche Arbeit, mit den Händen. Man musste niemanden runtermachen bei dieser Art Arbeit, in keinem Büro sitzen und sich nicht mit Ellenbogen nach vorne drängen. Man hatte keine Affären mit den jungen Dingern aus den Vorzimmern und man musste nicht über die dämlichen, sexistischen Witze des Chefs lachen. Das war für ihn immer wichtig gewesen.
Lange war es ihm damit gut ergangen und er hatte alles was man brauchte um glücklich zu sein. Tatsächlich war er das auch gewesen. Glücklich und zufrieden mit dem was er hatte.

Dann waren die Rückenschmerzen gekommen. Lange Krankheit, weniger Geld, Unzufriedenheit mit sich selbst, weil seine Frau eine kleine Stelle angenommen hatte um die Familie zu ernähren. Vorwürfe, Streit, Alkohol Schläge, Scheidung. Wie ein D-Zug raste das Leben durch diese typischen Bahnhöfe auf dem Weg hinab. Seit einigen Jahren nun, hatte Rainer auf der Straße gelebt. Er hatte sich nie ganz aufgegeben. Morgen schon, wollte er endlich Schluss machen mit allem. Sich aufrappeln und den Rest seines Lebens angehen. 'Morgen' hatte sich nur immer wieder nach hinten verschoben. Auch die Straße konnte Alltag werden und Alltag bleibt. 'Morgen' dauerte 6 Jahre und dann, ganz plötzlich, kam 'Morgen' überhaupt nicht mehr.

Alles was man in Finstertal tat, bewegte etwas im Gewebe der Stadt, so als würde man an der Faser eines Teppiches ziehen und ihn aufriffeln. Rainers Körper wurde achtlos durch den jauchigem Schlamm gezogen, der hier unten, in den lichtlosen Tiefen unter der Stadt, omnipräsent vor sich her plätscherte. Der Kopf des Mannes wurde von einer Hand umklammert, deren überlangen Finger sich einmal komplett über den Schädel zogen. Es sah ein wenig aus, als würde ein saugendes Insekt auf seinem Gesicht sitzen, das seine Beine um ihn herum geschlungen hatte und nun mit wolllüstiger Langsamkeit sein Blut in sich hinein soff.

Ganz fern von der Wahrheit war das auch nicht, nur das die Hand des Nosferatu wenig mehr tat, als darauf zu achten, dass das Genick des Püppchens nicht gebrochen wurde, bei seinem Transport. Lurker wusste nicht, ob seine Beute bei Bewusstsein war. Er hatte ihn geschnappt und ohne Kommentar oder Rücksicht seine zu großen Schneidezähne in den Mann geschlagen und erst aufgehört ihm den Lebenssaft zu nehmen, als er sicher war, dass sein Opfer bewusstlos war, oder sich zumindest nicht mehr wehren konnte.
Nicht das die Kraft des Menschleins ein Problem dargestellt hätte, aber wer noch zappelte und um sich schlug, hatte meistens auch noch genug Kraft zu schreien, oder zu lärmen. Außerdem war eine Beute dann schwerer zu transportieren, weil sie andauernd zu fliehen versuchte, oder sich irgendwo festhielt. Brach man ihnen aber die Glliedmaßen, dann gaben sie oft weniger Nahrung ab, so als verbrauchte die Verletzung Lebenskraft aus den Körpersäften. Oft starben sie auch einfach dann auf dem Weg, weil die meisten Opfer die man auf der Straße fand nicht sonderlich gesund waren. Darum war es am einfachsten total betrunkene, oder Junkies auf Droge zu reißen, oder eben jemanden zu überfallen und ihn durch Blutverlust soweit zu schwächen, dass er entweder ohnmächtig wurde, oder zumindest zu schwach sich zu regen.

Jeder mit einem Funken Gnade im Leib, hätte Rainer wünschen sollen, das er schon lange ohnmächtig war.

Lurker bog um die letzte Biegung und ließ die Beute fallen. Nur kurz warf er einen Blick hinunter, ob das Fressen auch nicht mit dem Gesicht im Wasser landete. Nicht das der Kerl hier einfach ersoff. Tot nützte er ihm nichts. Er passierte eine alte Gaslaterne, die wohl in einem vergangenem Jahrhundert teil der Straßenbeleuchtung gewesen war. Wie an einigen Stellen in der Unterwelt Finstertals, konnte man auch in diesem Bereich hier durchaus Teile von einstigen Straßenzügen der Stadt erkennen. Manches davon war vor Jahren abgesackt, von Baumaßnamen überbaut oder bei Ausschachtungsarbeiten unterhöhlt worden und eingestürzt. Anderes hatte Clan Nosferatu auch selber hier unten anfertigen lassen, so dass es den Anschein eines versunkenen Straßenviertels machte. So konnte man, wie in einem Stockwerksystem, durch die Schichten der Stadtgeschichte hinabsteigen. Allerdings war die Chronologie ziemlich willkürlich. Sah dieser Teil der Höhlen aus, wie eine Straße um die Jahrhundertwende aus einem Jules Vernes Roman, den man in einem ungesundem Winkel hier hineingekippt hatte, konnte man durchaus in tieferen Ebenen noch andere Gegenden finden, die deutlich moderner aussahen. Es war ein ziemlich cleveres System der Verborgenen, denn wenn es jemand bis hinab in diese Schichten schaffte, würde er natürlich denken, dass seine Umgebung immer älter wurde, je tiefer man kam. Durchbrach man dieses Muster, ließ das die meisten orientierungslos zurück und sie kletterten plötzlich in die falsche Richtung.

Lurker begab sich zu der Litfaßsäule, in der er mit seiner Tochter den Tag verbracht hatte. Er wusste nicht, ob die mittlerweile aus der Tagesstarre erwacht war. Zum Einen brauchte es bei ihr mitunter recht lange, bis sie sich regte, zum Anderen war es keine wirkliche Konstante, wann der Fluch einen belebten Leichnam wie sie zurück in die Nacht zerrte. Manchmal stand der Mond schon hoch am Himmel, wenn man zu Bewusstsein kam und ein Andermal mochte die Sonne gerade erst unter gegangen sein. Heute indessen, hoffte er inständig, dass seine Tochter überhaupt zu ihm zurückkehren würde. Zwar hatte er gestern vor dem Sheriff im Brustton der Überzeugung gesprochen, aber was, wenn er sich das nur eingeredet hatte? War es vielleicht sein Wunschdenken, dass ihm vorgemachte hatte seine Tochter hätte den widerlichen Tzimiscen aus ihrem Körper und Geist vertrieben? Es musste so sein. Mit jeder Faser seiner Existenz wollte er, dass es so war. Er hatte Futter besorgt, falls sie wach wurde und direkt etwas brauchte. Gut möglich, dass ihr Kampf sie eine Menge Kraft gekostet hatte. Zur Not musste auch noch ein weiterer Mensch her. Oder viele. Wegen ihm würde er ein ganzes Heer und wenn es sein musste die ganze verdammte Stadt zur Schlachtbank führen, wenn das nur Stray zurück brachte. Vorsichtig sah er hinein in die Säule, wo sie sich gestern Morgen hinein gekauert hatten. Nicht das sie schon wach war und ihn anfiel.

Er musste wissen wie es seinem kleinem Mädchen ging. Sie musste zu ihm zurückkommen. Manche Dinge mussten sein. Er brauchte Gewissheit.
 
AW: [06.05.2008] - Prioritäten

Manchmal weiß man Dinge schon, lange bevor sie zur Gewissheit werden.

Manche nennen es Instinkt oder weise Voraussicht, andere beschreiben es mit einem fast mystischen Gefühl direkt aus dem Inneren. Woher auch immer es kommt, jeder hat so etwas schon einmal erlebt. Die plötzliche Eingebung wo der lange verlorene Schlüsselbund zu finden war, das prickelnde Gefühl im Hinterkopf das einen erkennen ließ, dass mit einem lieben Verwandten am anderen Ende der Stadt etwas nicht in Ordnung war. Die Gewissheit das in einem Brief schlechte Nachrichten zu finden sein würden, noch während man dabei war das Couvert zu öffnen.

Ebenso musste es Lurker ergehen.
Schon lange bevor er mit seinem zur Nahrung umfunktioniertem Menschen die Litfaßsäule betrat wusste er insgeheim, dass Jenny noch nicht wieder zur Besinnung gekommen sein würde. Die Jagd nach dem Landstreicher, der Moment an dem er ihn überwältigt und von ihm getrunken hatte, der Weg hierher, hatten ihn beschäftigt und wenigstens ein bisschen von seiner gefräßig nagenden Sorge abgelenkt. Nun war seine Aufgabe aber beinahe beendet und der gewaltige Stein der Sorge, dort wo einstmals sein Magen war, lastete mit jedem Schritt den er näher auf die Säule zu tat schwerer in ihm.

Trotz dieser quälenden Gewissheit ist der Moment der Erkenntnis nicht weniger schwer zu ertragen. Lurker hatte gewusst, dass seine Tochter noch immer bewusstlos sein würde, hatte sich aber wohl an die Hoffnung geklammert, dass all seine Mühen am Ende mit einem Erfolg belohnt würden. Sie wurden es nicht und eben das war es auch, was einen am meisten zu schaffen machte. Der Augenblick an dem die Hoffnung starb und einer arrogant grinsenden Gewissheit weichen musste.

Jenny lag noch immer in der gleichen Position in der Säule in der er sie verlassen hatte. Fötal zusammengerollt wie ein Kleinkind im Mutterleib strahlte sie fast etwas Friedliches aus. Sie wirkte als würde sie schlafen und eben das war das Seltsame. Kainiten waren verstorbene Menschen, denen es gelang des Nachts aus ihren Gräbern zu steigen. Tagsüber aber waren sie das was sie sein sollten, tote Körper die schlaff in irgendwelchen modernen Ruhestätten lagen, bis sie irgendein mystischer Schalter Nacht für Nacht für ein paar Stunden erweckte. Bei der Caitiff war dies aber anders. Natürlich wusste der Nosferatu nicht, wie sie während der Sonnenstunden wirkte, aber jetzt in diesem Moment, war sie alles andere als nur ein toter Körper. Ihr athletischer Körper stand ein wenig unter Spannung, das schlafende Gesicht hatte sich einen Rest Mimik bewahrt und auch sonst wirkte sie nicht wie eine Tote sondern eben so als würde sie einfach nur schlafen.

Aber egal was Lurker auch versuchte, sie erwachte einfach nicht. Anscheinend hatte Zacharii, in dem Moment an dem die Anarche ihn aus ihrem Körper gezwungen hatte, noch irgendetwas zerstören können. Blieb zu hoffen, dass dieser Schaden nicht von Dauer war und dass sich die geliebte Tochter irgendwann wieder von diesem schrecklichen Moment erholen würde.

Was sonst konnte er tun?
 
AW: [06.05.2008] - Prioritäten

Jenny riss die Augen auf.
Nur langsam erwachte ihr Verstand und erlangte damit auch die Kontrolle über die ersten Muskeln zurück. Zu langsam aber, um sich direkt zu erheben. Die Caitiff nutzte die Zeit um in Gedanken eine erste Bestandsaufnahme über eventuelle Beschädigungen ihres Körpers abzuarbeiten. Alles schien noch gut in Takt. Ob dies auch wirklich den Tatsachen entsprach, würde sich zeigen, wenn sie sich endlich erhob. Wenn auch sie auch hier keine plötzlichen Proteste überraschten, war ihr anscheinend nichts geschehen. Warum aber war sie dann bewusstlos gewesen? Wie kam sie hierher? Und wenn sie damit nicht zu einem vernünftigen Resultat kam, dann wollte sie doch wenigstens wissen wo zur Hölle sie eigentlich gerade war.

Stöhnend setzte sich die junge Anarche auf und stellte zufrieden fest, dass sie anscheinend keine neuen Verletzungen erlitten hatte. Außer einem heftigen Kopfschmerz, schien sie also tatsächlich noch völlig in Ordnung zu sein. Langsam und vorsichtig führte sie ihre wirren Gedanken durch den Schmerzvorhang hindurch in die Vergangenheit. Seltsame Bilder wirbelten umher, Bilder die sie nicht einzuordnen vermochte.

Sie sah eine schmutzige Matratze, dann eine alte Frau dann Enio?
Hatte der alte Mistkerl sich etwa an ihr vergangen?
Nein, das konnte nicht sein.
Nicht Pareto!
Nie!!

Aber sie erinnerte sich, dass sie dem Brujah sehr nahe gewesen war. Sie roch seinen Schweiß und sein Blut, seine Nähe. Schwachsinn! Ärgerlich wischte Jenny die Bilder aus ihren Gedanken, das war doch alles vollkommen bekloppter Humbug. Sie versuchte es erneut. Die gleiche Szene tauchte wieder auf, nur das Enio verschwunden war und stattdessen nun Meyye mit ihr im Clinch lag.
Was hatte das alles nur zu bedeuten? Jenny griff sich an die Nasenwurzel und stützte sich im sitzen auf ihre angezogenen Knie ab. Ein leiser Seufzer entrang sich ihrer Kehle. Wäre diese seltsame Matratze nicht, hätte sie geschworen in ihrem Traum mit den beiden gekämpft zu haben.
Aber war Sex nicht ebenfalls immer auch ein wenig Zweikampf?
Warum aber kam dann Meyye darin vor?
Wer will denn Sex mit dieser Keife?

Sie zwang sich weiter darüber nachzudenken.
Nun tauchten fremde Gesichter auf. Da war irgend so eine junge Frau die ihr ständig in den Hintern trat. Dieser komische Malkavianer, dessen Namen sie vergessen hatte, wollte ihr einen Sack über den Kopf ziehen, weitere Gesichter traten auf und alle hatten anscheinend nichts Besseres zu tun, als auf sie einzuprügeln!? Aber war es nicht genau das, was sie so sehr an der Stadt hasste? War sie nicht der Prügelknabe für all die beschissenen Bonzen? Darauf wollte der Traum also hinaus. Es war endgültig an der Zeit nicht mehr den Bückling zu machen und die andere Wange hinzuhalten. Die Zeit war gekommen, an dem der ein oder andere Bonze lernen musste, was es bedeutete, wenn der Pöbel zurückschlug. Und dies im wahrsten Sinne des Wortes.

Jenny griff in die Innentasche ihre Jacke und zauberte eine Zigarette hervor. Als diese endlich brannte, sah sie auf die Uhr. Kurz nach fünf! Na super, dann würde sie ja direkt wieder umkippen. Nicht einmal genügend Zeit sich noch schnell zu betrinken. Was für eine Kacke ging hier eigentlich ab?

Die Zigarette war noch nicht völlig zu Ende geraucht, da hatte die Caitiff ihre seltsamen Eindrücke schon wieder vergessen. Alles was blieb, war ein weiterer Tropfen in dem gut gefüllten Fasses der ihren tief sitzenden Hass gegen die Camarilla widerspiegelte. Es war nicht der Eine, der das Fass zum Überlaufen brachte. Aber er reichte fast daran heran. Viel fehlte nicht mehr und sie würde explodieren.

Die Schläge und den Schmerz für das Proletariat!
Den Ruhm für die reichen Säcke!

Es war wirklich an der Zeit die Verhältnisse umzukehren.
Mit diesen Gedanken legte sich Jenny wieder hin.
 
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